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Altbundespräsident hält Freiheitsrede in Halle Vorsicht, Gauck!

Der Altbundespräsident eröffnet in Halle die Ringvorlesung „Geschichtszeichen der Freiheit“. Wer nicht wählen geht, dem will er künftig höchstpersönlich im Traum erscheinen.

Von Christian Eger 11.04.2024, 17:39
Joachim Gauck in Halle: „Demokratie ist unser Ding.“
Joachim Gauck in Halle: „Demokratie ist unser Ding.“ (Foto: Uni Halle/ Markus Scholz)

Halle/MZ. - Er kommt ab sofort wohl häufiger. Nicht zu öffentlichen, sondern zu sozusagen privaten Auftritten – als persönliche Heimsuchung all jener nach 1989 im Osten Geborenen, die im Hinblick auf die kommenden Wahlen meinen, dass das Wählen doch lästig, lässlich oder sinnlos sei. Eine Einstellung, die Altbundespräsident Joachim Gauck nicht nur nicht teilt, sondern verurteilt. Vorsicht, Gauck! „Das verspreche ich“, rief der 84-Jährige am Dienstagabend in Halle in Richtung der Demokratieverdrossenen: „Ich werde Ihnen im Traum erscheinen!“

Gauck, der aufstörende Erwecker. Ist das schon unzulässige Wählerbeeinflussung? Der gebürtige Rostocker jedenfalls will seine Mitbürger aus dem demokratischen Schlummer reißen. Das war der Grund-Sound der etwas mehr als halbstündigen Rede, die der parteilose Theologe, der von 2012 bis 2017 als Bundespräsident diente, zur Eröffnung der von der Universität Halle und der Leucorea in Wittenberg veranstalteten Ringvorlesung „Geschichtszeichen der Freiheit. Deutungen der Friedlichen Revolution in der Gegenwart“ hielt. Eine Ringvorlesung aus Anlass des 35-jährigen Revolutionsjubiläums, die bis Ende Juni zwölf Referenten nach Halle führt.

Freiheit von und zu

Der Freylinghausen-Saal in den Franckeschen Stiftungen war nicht zügig, aber dann doch bis auf den letzten Platz gefüllt, als Gauck unter Applaus gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) in den Saal einzog. Als er vom Pult aus als Bundespräsident begrüßt wurde, korrigierte Gauck aus der ersten Reihe: „a. D.!“, außer Dienst. Der auch anwesende Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), habe diese Anrede empfohlen, hieß es entschuldigend von oben.

Fast eine Stunde währte das Wärmebad der Grußworte. Der Wittenberger Reiner Haseloff freute sich, dass die Wittenberger Leucorea mit im Boot ist, die 1502 gegründete kursächsische Landesuniversität, der die heutige Universität den Zusatz Halle-Wittenberg verdankt. Dass Sachsen-Anhalt das eigentliche „Kernsachsen“ und der Freistaat Sachsen nur ein „Restsachsen“ im Nachgang des Wiener Kongresses von 1815 sei, erklärte der Ministerpräsident den sächsischen Ohren im Saal; hier hat die jüngste landeshistorische Forschung ganze Arbeit geleistet.

Was aber hat die Revolution von 1989 gebracht? Ist sie „eigentlich bedeutend“? Hat sie „etwas Gutes“ bewirkt? Oder steht die Revolution noch aus? Fragen, die die Ringvorlesung klären soll, wie die Veranstalter eingangs mitteilten.

Unterwerfung statt Eigensinn

Dass er mit seiner Selbstbezeichnung als „Liebhaber der Freiheit“ angekündigt wurde, das gefiel Joachim Gauck, der unter dem Titel „1989/90: Freiheit erringen, Freiheit gestalten“ einen großen Bogen schlug: von sich selbst aus, der 1940 in einer Diktatur geboren wurde, bis in die Gegenwart. Vom „Leben in politischer Ohnmacht“ sprach Gauck, von der „doppelten Normalität“ der DDR: einerseits dem Anpassen, andererseits dem Anspruch, dem Anpassen nicht einfach nachzugeben. Offiziell gefordert und gefördert wurde indes „nicht Eigensinn, sondern Unterwerfung“, sagte Gauck. Und dass er sehr bewusst genau dieses „raue“ Wort wähle. Einige Akademiker hätten in der „durchherrschten“ DDR nicht von „Unterwerfung“ gesprochen, sagte er, sondern verhüllend von „Gründen“. „Aber es ist Unterwerfung.“

Dass das „pure Glück“ der jungen Freiheit, die als Befreiung erlebt wird, nicht einfach dauerhaft fortwirke, war das Thema der Gauckschen Rede. Wie soll es dazu gekommen sein? Gauck unterscheidet die „Freiheit von“, also zum Beispiel die Freiheit von Zwang, von der „Freiheit zu“, der Freiheit etwas selbst zu machen, Verantwortung zu übernehmen.

Die „Freiheit zu“ ist die Freiheit, für die Gauck wirbt. Warum ist die angeblich so schwach ausgebildet? Gauck spricht von einem von den Diktaturen geprägten „habituellen Ich“, das schwerer zu ändern sei als ein „intellektuelles“. Dass viele Menschen nach 1989 mit ihren Arbeitsplätzen auch ihre Sicherheit verloren hatten, räumt Gauck ein. „Aber doch nicht alle!“

„Das kann ich nicht ab“

Das „habituelle Ich“ des Westens hingegen blieb von Gauck unbefragt. Genauso wie der Mangel an ostdeutscher öffentlicher Repräsentanz und Teilhabe. So ist an diesem Abend 1989 zwar ein gern als „europäisch“ adressiertes, aber kein westdeutsches Ereignis.

Zur AfD hat Gauck eine eindeutig ablehnende Haltung, zu den Menschen, die sich ihr zuwenden nicht durchweg. Aber wenn „ein Typ in meinem Alter“ von der jüngeren Geschichte als einem „Vogelschiss“ rede, „dann ist Schluss bei mir mit Verständnis“. Diese Leute könnten „von mir aus“ aus dem Parlament „verschwinden“, sagte er unter Applaus. „Ich kann die Flucht ins Autoritäre nicht ab.“ Für Gauck eine Flucht aus und vor der Freiheit. Aber jeden AfD-Wähler als Nazi zu bezeichnen, das gehe auch nicht. Es komme darauf an, „tragfähige Zukunftsangebote“ zu machen. Nicht jeder könne für die Demokratie „aktiv“ sein. Wichtig sei, „dass wir die kritische Masse haben“, sagte der bekennende „Wechselwähler“. Jene, die sagt: „Demokratie ist unser Ding“.

Gauck ist für die Zukunft nicht bange. Er sehe eine „gewachsene Zivilgesellschaft, selbst im Osten“. Und er wagte eine Prognose: „Ich bin ganz sicher, dass die Kräfte von rechtsaußen nicht regieren werden.“ Mit einem Dreisatz schloss er seine Rede: „Deutsche können Freiheit! Deutsche können Freiheit auch verteidigen! Und Sie und ich werden dabei sein!“ Die Zuhörer erhoben sich und schenkten Standing Ovations. Ihnen wird Gauck nicht im Schlaf begegnen.