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Interview Marco Tullner: Wieso der Bildungsminister das Landesschulamt kritisiert

Von Hagen Eichler und Kai Gauselmann 09.11.2016, 08:00
„Ich will nicht sagen, dass das in den kommenden Jahren besser wird“: Marco Tullner im MZ-Interview.
„Ich will nicht sagen, dass das in den kommenden Jahren besser wird“: Marco Tullner im MZ-Interview. Nicolas Ottersbach

Halle (Saale) - Manche Schulklasse im Land hat seit den Sommerferien noch keine einzige Stunde Biologie oder Ethik absolviert. Fehlende Lehrer sind das größte Problem der Schule in Sachsen-Anhalt - aber bei weitem nicht das einzige.

Herr Tullner, zu Beginn des Schuljahres haben Sie für die Unterrichtsversorgung die Note „befriedigend“ vergeben. Jetzt rollt die Grippewelle durch die Lehrerzimmer, noch mehr Stunden fallen aus. Ihre Zensur heute?
Tullner: Wir sind noch im Korridor von „befriedigend“.

Aktuelles Beispiel von einem Sechstklässler aus Halle: Von sechs regulären Stunden fallen vier Stunden aus, zwei werden vertreten. Ist das noch die Ausnahme oder schon die Regel?
Tullner: Das ist eine Ausnahme, die leider immer wieder mal vorkommen kann. Ich will aber nicht sagen, dass das in den kommenden Jahren besser wird. Bis zu 1200 Lehrer im Jahr werden aus Altersgründen ausscheiden. Man kann ahnen, was uns das für Schwierigkeiten machen wird, qualifizierte Lehrer zu finden.

In der Grundschule Gossa in Anhalt-Bitterfeld unterrichten seit Wochen Eltern, weil eine kranke Lehrerin nicht ersetzt wird. Würden Sie so etwas auch in weiterführenden Schulen erlauben?
Tullner: Ich freue mich über den Einsatz von Eltern, aber den Fachunterricht durch Lehrkräfte können und sollen sie nicht ersetzen. Gossa ist ein Extremfall, eine kleine Grundschule in einer Randlage, bei der aktuell Eltern im Rahmen der gelebten Schulpartnerschaft die Arbeit der Lehrkräfte unterstützen. Mich ärgert, dass da nicht schnell eine Lösung gefunden werden konnte. Ich habe jetzt erfahren, dass eine pensionierte Direktorin bereit gewesen wäre, auszuhelfen. Aber aufgrund zu starrer Regelungen und anfänglich fehlender Gelder war es nicht möglich, das Problem zeitnah zu regeln.

Marco Tullner: Kritik an der GEW

Jahrzehntelang hat Sachsen-Anhalt früheren Lehrern mit DDR-Diplom die Rückkehr in den Schuldienst verweigert. Machen Sie jetzt die Tore ganz weit auf?
Tullner: Wer heute eine pädagogische Ausbildung hat, dazu zählen Lehrer mit DDR-Diplom, der kann auch eine Anstellung finden. Die GEW hält ja sogar jeden für geeignet, der überhaupt irgendeine akademische Ausbildung hat und sich in der Schule wohlfühlt. Da habe ich aber, auch angesichts einer fast siebenjährigen Lehrerausbildung, meine Zweifel.

Zum Jahresende verlassen die 185 befristet eingestellten Sprachlehrer die Schulen. Wie soll der Unterricht funktionieren, wenn ein gerade angekommenes Flüchtlingskind kein Wort Deutsch kann und der Lehrer natürlich auch kein Wort Arabisch?
Tullner: Bis 2014 sind Flüchtlingskinder auch in den normalen Unterricht gegangen. Das lief vermutlich sicher nicht optimal, aber es hat funktioniert. Warum vor zwei Jahren als Befristungsende der 31. Dezember gewählt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch damals wusste man, dass ein Schuljahr nicht Silvester endet. Ich bemühe mich jetzt, die Dinge so zu regeln, dass zumindest dieses Schuljahr vernünftig zu Ende geht.

Das heißt konkret?
Tullner: 50 Sprachlehrer haben wir unbefristet eingestellt. 75 weitere Vollzeitstellen bräuchten wir, um den Bedarf bis zum Schuljahresende abzudecken. Mein Ziel ist, dass wir die zum 1. Januar haben. Dafür brauchen wir knapp zwei Millionen Euro, die wir in den nächsten Tagen und Wochen finden müssen. Ich habe aber aus den Koalitionsfraktionen wahrgenommen, dass wir uns in dem Ziel einig sind.

Marco Tullner: Welche Prioritäten der Bildungsminister setzt

Und was passiert im nächsten Schuljahr?
Tullner: Wir müssen vor allem die ganz normale Unterrichtsversorgung in den Griff bekommen. Qualifiziert ausgebildete Lehrer haben grundsätzlich Vorrang. Unter den Sprachlehrern befinden sich viele Seiteneinsteiger, die sich bewerben können. Bei begrenzten Stellen will ich aber lieber allen Referendaren, die wir ausgebildet haben, ein Angebot machen. Da setze ich die Priorität.

Das Landesschulamt hat Dutzende Pädagogische Mitarbeiter an andere Schulen abgeordnet. Wie geht es weiter, wenn die Abordnung im Februar endet?
Tullner: Die Abordnung unmittelbar nach Beginn des Schuljahres hat für viel Unruhe und Unverständnis gesorgt, was ich total nachvollziehen kann. Diese Art des Umgangs war unterirdisch. Wir brauchten aber diese Abordnung, um Zeit zu gewinnen. Jetzt können wir für 54 Kollegen, die in den Schuldienst gewechselt sind, Neubesetzungen vornehmen, 50 Stellen haben wir neu bekommen. Damit können wir den Status wie zuvor weitgehend wiederherstellen. Wir müssen jetzt klären, wie es nach 2017 grundsätzlich weitergeht. Dabei geht es um den notwendigen Einsatz von pädagogischen Mitarbeitern an Förderschulen aber auch um die verlässlichen Öffnungszeiten an den Grundschulen.

Schon mehrfach haben Sie die Arbeit des Landesschulamts kritisiert, auch öffentlich. Bleibt der SPD-Mann Torsten Klieme auch unter Ihnen an der Spitze dieser Behörde?
Tullner: Personelle Veränderungen stehen nicht zur Debatte. Das Landesschulamt arbeitet in vielen Bereichen sehr engagiert und an der Belastungsgrenze. Ich nehme Probleme an den Strukturen und zu starren Regelungen wahr. Das können wir aber verändern. Wir müssen schneller und flexibler auf Anforderungen reagieren. Wir werden dazu im Ministerium eine Mitarbeiterin einstellen, die die Kommunikationsprozesse beschleunigen soll.

Sie klingen so gelassen. Hat sich die Kenia-Koalition damit abgefunden, dass Bildungspolitik Mangelverwaltung ist?
Tullner: Ich resigniere nicht. Ich habe aber gelernt, dass man die Probleme nicht löst, wenn man in Hektik und Aktionismus gerät. Fakt ist, wir werden am Ende des Jahres ein Sch
ritt nach vorn gemacht und 720 Lehrer eingestellt haben.

Wenn man sich müht, nicht von „befriedigend“ auf „ausreichend“ abzurutschen, zeigt das schon einen gewissen Mangel an Motivation.
Tullner: Wir leben nicht in Wolkenkuckucksheim. Meine Kollegin in Sachsen spricht bei der Lehrerversorgung von einem Tal der Tränen, das durchschritten werden muss. Wir haben sehr viele Lehrer, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, gleichzeitig suchen alle Länder Personal. Eine Unterrichtsversorgung, bei der alle Kinder und Eltern glücklich durchs Land laufen, werden wir in den nächsten fünf Jahren leider nicht erreichen.

Sie haben angekündigt, dass die Gymnasien bis 2019 in der Oberstufe zum System aus Grund- und Leistungskursen zurückkehren. Bleibt es dabei?
Tullner: Ja, weil wir beim Abitur Vergleichbarkeit zwischen den Ländern brauchen. Aber ich will nicht, dass als Kollateralschaden die kleinen Gymnasien auf der Strecke bleiben. Deswegen brauchen wir Zeit und Bedachtsamkeit, um das zu organisieren. Im nächsten Jahr wollen wir das sehr breit diskutieren.

Im Sommer haben in Sachsen-Anhalt 9,7 Prozent der Schulabgänger nicht einmal den Hauptschulabschluss erreicht. Wie wollen Sie diesen Anteil verringern?
Tullner: Die Motivation ist eine entscheidende Frage. Die Frage ist, wie sich die Schule durch die Digitalisierung verändert, welche neuen Formen von Lernen es geben wird. Da stehen wir noch am Anfang. (mz)