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Drei Ost-Frauen im Gespräch Hoch die Tassen!

Drei ostdeutsche Frauen wollen es wissen: Wer waren wir? Wer sind wir? Und wer wollen wir sein? In sieben Nachtsitzungen besprechen sie die Lage. Wodka und Wein helfen dabei.

Von Christian Eger Aktualisiert: 20.03.2024, 10:55
Wenke Seemann (links),  Annett Gröschner, Peggy Mädler (vorn )
Wenke Seemann (links), Annett Gröschner, Peggy Mädler (vorn ) (Foto: Andreas Rost)

Drei Frauen, sieben Nächte, jede Menge Alkohol und die Fragen: Wer waren, wer sind wir und wer wollen wir sein? Fragen im Nachwende-Osten, in der akut politisch verstörten Republik. Die Frauen sind sogenannte „Ostfrauen“, in Berlin lebende Freundinnen aus dem literarisch-künstlerischen Milieu: Annett Gröschner, Schriftstellerin, geboren 1964 in Magdeburg; Peggy Mädler, gebürtige Dresdnerin vom Jahrgang 1976, Autorin und Dramaturgin, und Wenke Seemann, geboren 1978 in Rostock, Sozialwissenschaftlerin und freie Künstlerin.

Drei Frauen, denen nichts an ihrer gesellschaftlichen Gegenwart selbstverständlich ist, was wohl zuletzt den eigentlichen Unterschied zwischen Ost- und Westfrauen ausmacht. Befeuert von Wein und Wodka (eher polnisch und russisch als deutsch), Bowle und Gin-Tonic arbeiten sie Punkt für Punkt ihre Themen ab. Dazwischen: Hoch die Tassen! „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ heißt das in Buchform gegossene Gespräch.

Nicht Wiebke, sondern Silke

Ein Titel wie ein Korkenknall. Osten, Alkohol, Utopie! Der Verdacht von Ost-Folklore liegt nahe, wie sie jetzt auch von großen westdeutschen Publikumsverlagen betrieben wird. Nachdem ost-west-politisch längst alles egal ist (die Einheitsmessen sind gesungen). Man aber bemerkt hat, dass mit dem Ost-Thema noch Auflage zu machen ist, wenn nur eine deutschlandweite Aufmerksamkeit garantiert ist. Die Ost-Verlage drangen da nie durch. Aber der Literaturbetrieb ist ein westdeutscher, insofern geschieht immer alles zweimal. Einmal ohne Rumms (Ost), einmal mit (West) – wenngleich oft zu spät.

In diesem Fall aber doch zur rechten Zeit. Denn vor allem ein Buch zur gesamtdeutschen Jetzt-Zeit haben die Frauen geliefert. Die Ost-Vergangenheit taucht auf, aber vor allem als Nahvergangenheit der 90er und 2000er Jahre. Bodenlose Zeiten, die erst jetzt begriffen werden können.

Insofern wirkt das Buch wie eine Haltewunschtaste: Einmal innehalten und fragen, was ist die Lage? Herausgekommen ist eine Form von geselliger Soziologie. Ein Gesprächsprotokoll, das sich tatsächlich lesen lässt, illustriert mit Fotografien (aufgenommen von Wenke Seemann mit überlagerten DDR-Orwo-Rollfilmen) und wie ein Weihnachtsbäumchen behängt mit Fußnoten, weil Stefan Heym einmal gesagt hat, dass die DDR nur eine Fußnote der Geschichte sei. Humor haben die Frauen auch. Und Fragen. Wie wohnte, lebte und überlebte man im Osten – und heute? Wie sah der Alltag aus – für die Frau, den Mann, die Familie? Gab es eine Emanzipation im Osten? (Ja, aber widerständig und von „unten“.) Was bedeuteten Besitz und Eigentum? (Praktisch wenig.) Was geschieht gerade in und mit der Demokratie? Und was ist eine „Ostfrau“?

„Autsch“, sagt Peggy Mädler

Zitiert wird ein Gedicht von Bert Papenfuß-Gorek unter dem Titel „Die Ostfrau an sich“. Darin heißt es unter anderem: Sie „heißt silke & nicht wiebke oder gar kirsten“, ist „fast immer gut gelaunt“, ist „praktisch veranlagt“ und „fidel“, ist „sympathisch, weil so normal“. „Autsch“, sagt da Peggy Mädler. Am Ende der Debatte steht fest: Die Ostfrau als „Frau, aber normal“ ist ein politisches Phantom.

„Letztendlich bin ich auch eine Westfrau“, sagt Annett Gröschner. Es gibt da keinen essentiellen Kern. Für die DDR-Situation erklärt sie klar: „Die ostdeutsche Frau unterscheidet sich soziologisch nicht wesentlich von der Westfrau aus unterprivilegierten Verhältnissen, nur dass die Ostfrau mehr Frauenrechte hatte, das Recht auf Abtreibung zum Beispiel.“

Selbstverständlich sind die drei Künstlerinnen nicht „der Osten“. Aber sie blicken über den Tellerrand hinaus. Und sie sind frei von Ostalgie. Die DDR „war ein Willkürstaat“, sagt Annett Gröschner, „du konntest dich auf nichts verlassen“. Armut, Härte und Gewalt, alles wird besprochen.

Solidarisch statt sozialistisch

Wenn Begriffe geklärt werden sollen, stört die Dialogform. Aber: Das Buch arbeitet mit Daten und Fakten, ist lesbar wie ein Sachbuch; das macht es nützlich über den Tag hinaus. Es ist ein Buch der Inventur. Begriffe werden von den Frauen geprüft. Sozialistisch: gestrichen. Solidarisch: bleibt. Selbstkritik weg, Selbstreflexion her.

Im Blick auf die aufgestörte Gegenwart sagt Wenke Seemann, dass für das „Unsicherheitsgefühl“ mehr als die persönliche ökonomische Situation „die eigene Position innerhalb der Gesellschaft“ entscheidend sei. Das ist gut beobachtet. Tatsächlich haben wir es – bis hin zu den Bauern – auch mit erlittenen Statusverlusten zu tun. Dass sie selbst hingegen sich nicht mehr in „strukturelle Konkurrenz“ begebe, sagt Peggy Mädler, dass sie in den verfestigten Verhältnissen nicht mehr „um jeden Preis“ zum Zug kommen müsse. Darum geht es den Frauen auch: Selbstbestimmtheit verteidigen.

Mit den Nächten schälen sich die Frauencharaktere heraus: die pragmatische Wenke, die empathisch-humorvolle Peggy, die analytisch desillusionierte Annett, die von sich sagt, dass sie in Folge der Ost-West-Jahrzehnte an einer „posttraumatischen Verbitterungsstörung“ leide einem nachschlagbaren Krankheitsbild. Wer diesem vorbeugen will, greife zu diesem Buch. Hell und schnell ist es über weite Strecken. Und herausfordernd interessant.

Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat. Hanser Verlag, 320 Seiten, mit Abbildungen, 22 Euro.