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Buchmesse-Start in Leipzig Bloß nicht brüllen!

Weniger regionale Verlage, weniger Lesungen: Trotzdem übt sich auf der Leipziger Buchmesse die Branche in Zuversicht. Und der Bundeskanzler bei der Eröffnungsrede in Geduld

Von Christian Eger 21.03.2024, 18:18
Ort für unerwartete Begegnungen: Cosplayer der Manga-Comic-Con unterwegs in den Buchmesse-Hallen
Ort für unerwartete Begegnungen: Cosplayer der Manga-Comic-Con unterwegs in den Buchmesse-Hallen (Foto: epd)

Leipzig/MZ. - Wir stehen früher auf, so warb einst das Land Sachsen-Anhalt für sich. Es hätte wohl auch für den Osten sprechen können. Die drei Autorinnen des von der Kritik gepriesenen Gesprächsbandes „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ sind jedenfalls sehr früh zur Stelle. Kaum, dass die Leipziger Buchmesse am Donnerstagmorgen ihre Hallen öffnete, sind Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann schon im Einsatz, um am Deutschlandfunk-Stand Auskunft über ihr Buch zu geben. Unter den wohlwollenden Blicken ihres Verlegers, des Hanser-Chefs Jo Lendle.

Was „Ostfrauen“ können

Was das denn sein soll eine „Ostfrau“, will der Moderator wissen, der selbstverständlich weiß, dass er es mit einem Klischee zu tun hat. Also will er erst einmal die Klischees einsammeln. Die Autorinnen spielen mit. „Ostfrauen lassen Kinder vor der Kaufhalle stehen“, sagt Wenke Seemann. „Sie haben einen starken Erwerbssinn“, behauptet Peggy Mädler. „Sie tragen Kittelschürzen, auch im Theater“, wirft Annett Gröschner ein. Und so lustig fort. Fast alles Unsinn, fast alles Vorurteile. Im Ganzen weder „demokratiefähig“, meinen die Frauen, noch aussagekräftig.

Um das zu ändern, haben die drei Autorinnen aus dem Ostberliner Künstler- und Akademikermilieu sieben Nächte über ihre Lage gesprochen: das Woher und Wohin. Dass sie nicht auf der „Oschmann-Hoyer-Welle“ schwimmen wollen, wird ausdrücklich betont, ausgelöst von den Debattenbüchern „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (Oschmann) und „Diesseits der Mauer“ (Hoyer). Die „polarisierende Debatte“, sagt Peggy Mädler, habe sie mit „Unbehagen“ verfolgt. Ihr gehe es hingegen um „Vielstimmigkeit“, um die „Gleichzeitigkeit“ von Erfahrungen, nicht um ein Entweder-Oder, sondern Sowohl-als-auch. Nicht um das „Triggern von Kränkungen“, sondern deren Gegenteil.

Immer radikal, niemals konsequent

Wie das möglich sei? Durch die praktische Arbeit an der praktischen Gegenwart, einerseits, ist zu hören. Durch Humor, andererseits, sagen die Frauen. Durch Leichtigkeit. Durch den Verzicht auf Dogmatik. Annett Gröschner, gebürtige Magdeburgerin und Klopstock-Literaturpreisträgerin des Landes Sachsen-Anhalt, sagt es mit einem Wort des legendären März-Verlegers Jörg Schröder: „Immer radikal, niemals konsequent.“ Aber doch mit Selbstbewusstsein.

Das übt auch die Buchmesse Jahr für Jahr. Denn in der Branche ist seit Jahren „Zeitenwende“, die Olaf Scholz für Deutschland erst 2022 ausrief. Der Bundeskanzler hatte bei der Messe-Eröffnung am Mittwochabend im Gewandhaus einige Buhrufe zu parieren aus der Pro-Palästina-Fraktion. „Sie werden sich nicht reinwaschen!“, tönte es aus dem Rang. „Hör auf zu brüllen, Schluss!“, entgegnete der Kanzler. Konfrontationen der Echtwelt, halb so schlimm wie Augen- und Ohrenzeugen bekunden.

Bloß nicht brüllen. In einer Weltöffentlichkeit, die globale Konflikte auch regional austrägt, ist das auszuhalten. Genauso wie eine überlange Lobrede, gehalten von der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz auf den deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm, der mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung geehrt wurde.

Das Minimum geht um

Permanente „Zeitenwende“: Für die Buchmesse heißt das eine immer stärkere Ökonomisierung. Die Stände werden teurer, die Anzahl der Veranstaltungen stark gedrosselt. Namhafte Regionalverlage reisten dieses Jahr gar nicht mehr an: der Lehmstadt Verlag aus Leipzig, die Connewitzer Verlagsbuchhandlung, der Berliner Quintus-Verlag, alle nicht mehr da.

Auch wenn die Besucher strömen, die Jugend in ihren Manga-Kostümen immer vorneweg. Auch wenn die Spitzenpolitiker in Scharen anreisen – am Donnerstag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) – der Wandel vollzieht sich hinter den Kulissen, für den Besucher kaum sichtbar. In traditionellen Buchhandlungen, die keine Nachfolger finden. In Kleinverlagen, die mit ihrem Publikum altern. Oft ist von Rente die Rede. „Das Minimum geht um“, reimte einst der Dichter Richard Pietraß.

Weniger Veranstaltungen

Aber Sachsen-Anhalt hält die Flagge hoch. Der Dr. Ziethen Verlag aus Oschersleben (Börde), der Verlag Janos Stekovics aus Dößel im Saalekreis, der Hasen Verlag aus Halle, der Mitteldeutsche Verlag, sie alle sind an Bord. Oder soll man sagen: noch einmal? Landeszuschüsse für die Standmieten wären jedenfalls ein künftiges Thema.

Der Stand des Mitteldeutschen Verlages, des größten Buchunternehmens der Region, ist frühlingshaft geschmückt. Wagengroße Kunstblüten zieren die schwarzen Bücherwände. Es ist auch ein Trotz-alledem. Die Zahl der Veranstaltungen sei jetzt an die Größe des Standes gebunden, sagt Verlagschef Roman Pliske. Das heißt: In diesem Jahr fünf, in den vergangenen Jahren waren es noch jeweils 30 bis 40. Warum? Keine Erklärung. Ausdrücklich gibt Pliske der neuen Buchmesse-Chefin Astrid Böhmisch eine Chance, die erst im Januar nach dem überraschenden Abgang von Oliver Zille übernahm. Warum, ist ungeklärt.

Selfie mit grünem Hasen

„Ich bin bereit für Wunder!“, sagt Pliske, dessen Verlag in Halle jetzt in die Bernburger Straße umgezogen ist. Im April soll gefeiert werden. Die Laune wollen sich auch Janos Stekovics und der Hasen-Verleger Peter Gerlach nicht vertreiben lassen. Ihre Verlagskojen sind bis Sonntag Nachbarn. Wenn Gäste fotografiert werden, dann gern mit „Hasi“, der grünen Hasen-Skulptur des Verlages. Die wird wohl auch dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) in den Arm gedrückt, wenn er am Sonnabend die Messe besucht.

Leipziger Buchmesse: Bahnhof Leipzig Messe, bis Sonntag täglich von 10 bis 18 Uhr.