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Rüterberg Rüterberg: Die vergessene Republik

Von Steffen Reichert 09.11.2007, 19:35

Halle/MZ. - Wenn man das Dorf nun hinter sich lässt und dorthin läuft, wo einst die alte Ziegelei stand, dann sieht man hinten am Deich und zwischen den Bäumen eine Schneise, die sich so trotzig vor dem Wald entlanghangelt, dass schnell klar ist: Sie ist von Menschenhand geschlagen. Dies ist hier die letzte Narbe einer Grenze, die Deutschland fast 40 Jahre lang geteilt hat.

Es ist ein stilles Dorf dieses Rüterberg, das im südlichsten Zipfel von Mecklenburg-Vorpommern liegt und das auf drei Seiten von Niedersachsen umgeben wird. Hier ist die Ruhe vollkommen. Hinter der Elbe sieht man das Wendland, im Osten sind die hinter der Tongrube angrenzenden Gemeinden rar gesät. Das Dorf liegt derartig nah an der einstigen Grenze - im so genannten 500-Meter-Streifen -, dass die DDR 1967 auch als Folge der massiven Gorleben-Schlachten auf Westseite einen zweiten Zaun baut. Direkt um das Dorf und mit einem Eingangstor zur Straße hin. Die Zaunfelder und Pfosten sind zwar lange verschwunden, ein kleines Stück Erinnerung ist freilich erhalten geblieben. Ansonsten wissen nur Eingeweihte, dass die riesigen Holzkiepen auf den Gehöften nach 1990 aus dichtem Grenzzaun gefertigt worden sind.

Und doch, vielleicht auch gerade deshalb, mögen die Menschen diesen Ort, der nach dem Krieg 340 Einwohner hatte und die meisten seiner Bewohner zu DDR-Zeiten nur durch den Tod verlor. "Das ist Heimat, wie man sie nur einmal hat", sagt Dorfbewohner Meinhard Schmechel: Natur, ein bisschen Land und das Wissen, dass schon die Eltern hier alle Unwetter ausgehalten haben. Vielleicht erklärt das auch, warum die Einwohner des Dorfes auch zu jener Zeit nicht weggezogen sind, als die ostdeutsche Staatsmacht das Dorf am liebsten von der Landkarte hätte verschwinden lassen.

Es beginnt mit einer Aktion, deren Tarnname so verräterisch wirkt, wie er auch Programm ist: mit der von Polizei und Geheimdienst organisierten Aktion "Ungeziefer". Weil das Dorf an der Demarkationsgrenze zwischen den Besatzungsmächten liegt, müssen 1952 zwei Dutzend Familien - die angeblich Unzuverlässigen, die Kritiker, die Kirchgänger - binnen Stunden ihr Hab und Gut auf einen LKW verladen, den Ort verlassen und ein neues Heim irgendwo im Innern der DDR beziehen. Ein paar Jahre später, mit dem Mauerbau 1961, werden wieder Grundstücke eingeebnet und dazu Grenzanlagen ausgebaut. Diesmal unter den Codewort "Festigung".

Meinhard Schmechels spätere Frau Gisela und ihre Eltern haben Glück bei diesen Aktionen. Nur weil der Vater 1952 bereits vorher von der Aktion erfahren hatte und nicht geflohen ist, darf die Familie bleiben. Eigentlich stammt Schmechel, der gerade 60 geworden ist, von der Insel Usedom. Er kommt 1966 als Grenzer für drei Jahre nach Rüterberg, wo die Grenzkompanie mitten im Dorf ihre Baracke aufgebaut hat. Aus drei Jahren wird schließlich ein halbes Leben. Erst ist es Liebe, die ihn hält, dann ist es die neue Heimat. Schmechel arbeitet als Kranfahrer im nahen Spanplattenwerk, bevor er in den Achtzigern der Bürgermeister wird, seine Frau ist im Dorfkonsum beschäftigt.

Die Einwohner, 1989 sind es noch ganze 150, haben sich unterdessen arrangiert. Sie bekommen Passierscheine, um das Eingangstor zu ihrem Dorf zu passieren. Manchmal warten die Handwerker und Melker vergeblich hinter dem verschlossenen Tor auf die Grenzer, damit sie morgens zur Arbeit kommen. 23 Uhr müssen sie zurück sein, danach geht nichts mehr. Am Wochenende 22 Uhr muss das Licht im Jugendklub gelöscht sein, doch manchmal tanzen die Jugendlichen die halbe Nacht, weil sie das Licht einfach ausgeschaltet lassen. "Die Angst, dass einer abhauen könnte", sagt Schmechel, "war relativ gering." Zu intensiv weiß jeder über den anderen Bescheid, zu genau sind die Kontrollen.

Dabei wäre es einfach gewesen. Die niedrigsten Häuser im Dorf stehen keine zehn Meter von der Elbe entfernt. Es gibt zwar einen hohen Zaun, doch es gibt keine Hunde, keine Stromsperren. Und doch bleiben die Rütersberger - es ist eben Heimat.

Dennoch empfinden sie es wie eine Befreiung, als im Herbst 1989 Hunderttausende in der DDR auf die Straßen gehen. In Rüterberg hat Ortschronist Hans Rasenberger eine ungewöhnliche Idee. Bei einer Dorfversammlung am 8. November 1989 lässt er abstimmen, ob sich Rüterberg nicht nach dem Vorbild der Schweizer symbolisch zur Dorfrepublik erklären wolle. Die Hand ist so schnell oben, wie die Abstimmung auch von den Ereignissen überholt wird. Einstimmig beschließen die Rüterberger das Ausrufen einer Dorfrepublik. Dass nur einen Tag später die Mauer geöffnet wird und nichts mehr ist, wie es mal war, ahnt an diesem Abend niemand hier.

Noch 1990 wenden sich die Dorfbewohner an den Bundeskanzler mit dem Ziel, den Titel "Dorfrepublik" dauerhaft führen zu dürfen. Ein Jahr später hat Mecklenburgs Innenminister den Titel an den Ort dauerhaft verliehen - eine kleine Heimatstube kündet von der kurzen Zeit der Utopie. Und der Grenzturm mitten im Ort. Inzwischen verkauft an einen Eigentümer in Süddeutschland, soll er als Ferienwohnung das schnelle Geld bringen: Küche und Sanitäranlagen hat er ja schon aus DDR-Zeiten. Aber das ist den Einheimischen dann doch zu viel. Kurzerhand schaltet sich der Gemeinderat. "Wir haben den Turm unter Denkmalschutz gestellt", freut sich Schmechel noch heute spitzbübisch. "Tourismus dieser Art wollen wir hier nicht."

Mit dem Abbauen der Grenzzäune, was nach dem Mauerfall noch einige Wochen dauert, kommen auch neue Menschen nach Rüterberg. Otto Martens, von Hause aus Hamburger, ist einer von ihnen. Mit seiner Frau, die aus dem Nachbarort Dömitz stammt, durfte er erstmals 1972 in den als Sperrgebiet deklarierten Kreis einreisen. Inzwischen hat Martens in Rüterberg gebaut, die Kinder sind irgendwann nachgezogen. Den "ersten Wessi von Rütersberg" nennt er sich. Und einen, der gerne hier lebe. "Schauen sie sich doch um", sagt der 72-Jährige und breitet die Arme aus, "wie toll es hier ist."

Man sieht die Elbe mit ihren Dünen, die in die Heide hinübergleiten. Man spürt den Wind, der über die Wiesen weht. Irgendwo am Horizont schiebt sich wieder ein Schiff ins Panorama. Es gibt keinen Zaun mehr, der den Blick zum anderen Ufer versperrt.