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Erik Neutsch Erik Neutsch: «Dass etwas anders wird...»

Von Andreas Montag 20.06.2006, 17:57

Halle/MZ. - Auch Erik Neutsch, der am Mittwoch vor 75 Jahren in Schönebeck an der Elbe geboren wurde, aber seit Jahrzehnten in Halle heimisch ist.

Daran hat sich nichts geändert, so viel sich auch geändert hat seit dem 1989er Herbst. Als das Ende der DDR besiegelt war, an die der Arbeitersohn Neutsch von Herzen geglaubt hatte. Das Land, in dem er als Journalist beim halleschen SED-Blatt "Freiheit" (aus dem die "Mitteldeutsche Zeitung" hervorgegangen ist) erfolgreich - und als Schriftsteller berühmt wurde.

"Spur der Steine", seinen prallen Roman, der wohl von Arbeitern und Aufbau handelt, aber nicht in die Allerwelts-Schublade der Arbeiter- und Aufbauliteratur passt, wird man noch lange erinnern und immer neu lesen.

Popstar in der DDR

Einen Popstar würde man den bulligen, temperamentvollen, manchmal auch ungehobelt polternden und sentimentalen Autor genannt haben, wenn das Wort im Sprachschatz der ehrgeizigen kleinen Republik denn vorgekommen wäre. Seine Leser schätzten ihn als kritischen Geist, an Ehrungen hat es nicht gefehlt. Zu den Bürokraten und Jasagern und Schweinehunden, die es im Lande DDR (auch unter seinen Intellektuellen und Künstlern) gegeben hat, gehörte Neutsch jedenfalls nie.

Immerhin hat die Stasi selbst ihn, der Mitglied der SED-Bezirksleitung war, in den Blick genommen. Neutsch macht eine wegwerfende Geste, wenn er von der umfangreichen Akte und der Spitzel-Prosa spricht, die sie über ihn gesammelt haben. Blauäugig war er manchmal schon, und manches hat er auch so genau nicht wahrhaben wollen. Die Invasion der Warschauer Pakt-Truppen in Prag 1968 zum Beispiel - und welchen Anteil die DDR-Volksarmee daran hatte. Später hat sich Neutsch bei den Tschechen offiziell entschuldigt. So ist er auch: Korrekt und mit einer gewissen Vorliebe für große Gesten.

Was seine Blauäugigkeit hinsichtlich des realen Sozialismus betrifft, so hat er sie, gewiss auch aus Verletztheit, die sich dem Elitensturz aus Wendetagen verdankt, weiter verteidigt. Eine Situation, wie sie nur folgerichtig an historischen Schwellen entsteht und tragische Züge annehmen kann. Das berührt unausgesprochene Dinge der eigenen Bilanz, über die man im Osten noch zu streiten hätte. Über die wenig geredet worden ist, weil es nicht nur befreien, sondern unvermeidlich auch wehtun wird.

Und dann hat es die neue Zeit mit all ihrem Fortschritt (und ihren neuen Opportunisten) eben auch verdammt eilig. Hinter Neutsch indes liegen harte Jahre. Seine Frau ist gestorben, er selber war mehrmals schwer krank. Der bekennende Bibel-Leser, der immer noch Sozialist ist und es in festem Glauben auch bleiben wird, hat Trost im Lesen und bei der Arbeit gefunden.

Von seiner Utopie will der Realist Neutsch jedenfalls nicht lassen. Dass die DDR notwendig am bürokratischen System, an der Kleingläubigkeit und dem so rigiden wie törichten Anspruch der Funktionäre, die Wahrheit gepachtet zu haben, scheiterte, räumt er heute ein. Er selbst aber habe nichts zurückzunehmen. Es schmerzt ihn sicher, wie sollte es anders sein. Er, der noch als Schulkind an der Panzersperre die Amerikaner aufhalten wollte, als vermeintlicher "Werwolf" ins Gefängnis kam und schließlich mit fliegenden Fahnen zum Sozialismus überlief, glaubt fest daran, dass man Freiheit und Gleichheit vereinen können muss: Was sonst hätte es für einen Sinn. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit hat er von den Eltern, Arbeitern und linken SPD-Anhängern, geerbt: "Dass etwas anders wird...", heißt hier die Erwartung des Heils.

Wer will über all diese Dinge noch reden? Über Neutschs schwer wiegenden Satz, es gehöre zu den historischen Verdiensten der DDR, die Konzerne und den Großgrundbesitz enteignet zu haben? Natürlich könnte man das vergessen und sagen, dass wir wirklich andere Sorgen haben. Aber so ist es ja auch.

Erik Neutsch wird die Diskussion auf seine Weise fortsetzen: Derzeit schreibt er am fünften, bis zum Ende der DDR reichenden Buch seines Epos "Der Friede im Osten". Ein Drittel ist fertig, wer es drucken wird, steht in den Sternen.

Stiftung betreut Werk

Sein Werk hat er jüngst der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin übergeben, in der es als Erik-Neutsch-Stiftung erhalten und gepflegt werden wird. Das mit den halleschen Stadtoberen jahrelang diskutierte Projekt, ein solches Archiv in Neutschs Wahlheimat einzurichten, war zuvor (aus Kostengründen, wie man hört) gescheitert.

Aber Neutsch hat auch den Verdacht, dass man nicht so traurig um das entgangene Erbe war: "Die mögen Sitte nicht, die mögen mich nicht." Ein heiseres Lachen kollert über die Terrasse, Neutsch bleibt Neutsch. Wer hätte im Ernst etwas anderes von ihm erwartet? Und in welche Gestalt hätte er sich auch verwandeln sollen?

Am Mittwoch findet in der Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Kolloquium zu Ehren von Erik Neutsch statt, es beginnt um 14 Uhr am Franz-Mehring-Platz