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Mordfall Yangjie Li Mordfall Yangjie Li in Dessau: Familie der ermordeten Studentin lässt weiter fragen

Von Ralf Böhme 03.01.2018, 09:00
Yangjie Li wurde nur 25 Jahre alt. Am 11. Mai 2016 verschwand die Studentin in Dessau. Am 13. Mai wurde ihre Leiche unweit ihrer Wohnung entdeckt.
Yangjie Li wurde nur 25 Jahre alt. Am 11. Mai 2016 verschwand die Studentin in Dessau. Am 13. Mai wurde ihre Leiche unweit ihrer Wohnung entdeckt. Privat/Polizei

Dessau - Nie wieder werden die Eltern von Yangjie Li nach Deutschland zurückkehren. Ihre Erfahrung: Dessau ist die reine Hölle. Dort haben sie ihre Tochter aus Sachsen-Anhalt abgeholt, heim nach China - in einer schmucklosen Urne.

Noch einmal den Schreckensort aufzusuchen, wo die junge Chinesin im Mai 2016 starb, dazu fehlt den Eltern die Kraft. Das Haus in der Johannisstraße, die Todesfalle für die 25-Jährige, nie wieder wollen sie es sehen.

Ebenso die einsame Konifere, den Fundort der geschändeten Leiche. Yangjie Li wurde erschlagen, zertreten, gewürgt, verstümmelt. Einfach vergessen - ein unerfüllbarer Wunsch. Das Grauen, die Erinnerungen bleiben für immer.

Grausamer Mord an Yangjie Li - Zeit heilt alle Wunden?

Zeit heilt alle Wunden? „Nein, das stimmt nicht. Die Zeit heilt keine Wunden.“ Das sagt ein Mann, der sich von Berufs wegen mit schwersten Verbrechen beschäftigt: Sven Peitzner ist Fachanwalt für Strafrecht in Berlin. Er vertritt den Vater von Yangjie Li im Prozess gegen das Dessauer Paar, das im spektakulärsten Sexmord-Verfahren des vergangenen Jahres traurige Berühmtheit erlangt.

Nach dem Urteil des Landgerichts, verkündet am 4. August 2017, haben Sebastian F. und Xenia I. das einzige Kind der Familie Li auf dem Gewissen. Der 21-Jährige muss demnach die Höchststrafe wegen Mordes absitzen. Seine gleichaltrige Ex-Gefährtin, Mutter von drei Kindern, kommt dagegen für fünf Jahre und sechs Monate hinter Gitter - wegen sexueller Nötigung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Alle beteiligten Seiten streben eine Überprüfung durch den Bundesgerichtshof an, auch die Eltern von Yangjie Li als Nebenkläger. Ein komplizierte Prozedur ist dafür in Gang gesetzt - an Fristen gebunden, die nächste läuft am 5. Januar ab. Dann müssen die Revisionen begründet werden. Das Urteil, das so in Frage gestellt ist, umfasst 100 Seiten. Voraussichtlich dauert es Monate, bis klar ist, ob Rechtsfehler vorliegen und wie es dann weitergeht. Aus heutiger Sicht ist nicht ausgeschlossen, dass die Bundesrichter den Schalter zurück auf Null stellen. Dann beginnt ein neuer Prozess.

Rechtsanwalt Peitzner, der via Internet und mit Hilfe eines Dolmetschers von Zeit zu Zeit mit der Familie im Kontakt ist, sagt über die Beweggründe seiner Mandanten. „Die Eltern verstehen nicht, dass Xenia I. vom Vorwurf des gemeinschaftlichen Mordes freigesprochen wurde.“

Immerhin ist sie nachgewiesenermaßen der Lockvogel gewesen. Ohne ihre perfide Vortäuschung eines Notfalls hätte Yangjie Li den Hof des Peinigers Sebastian F. nicht betreten.

Und auch das gehört zur gerichtlich festgestellten Wahrheit: Es ist Xenia I., die das Opfer mittels Google-Übersetzer ausfragt - beispielsweise, ob die junge Frau eventuell eine Geschlechtskrankheit habe oder ob sie allein oder in einer WG wohne und ob Freunde die Polizei rufen würden. Das ist kein Zufall, sondern zielgerichtetes Kalkül - eine eiskalte Risikoabschätzung. Juristen können das vielschichtige Geschehen in der Todesnacht von Yangjie Li so auf den Punkt bringen: Wer sich wie Xenia I. angesichts einer dramatischen Notsituation blind und taub stellt, nimmt Schlimmeres billigend in Kauf und handelt vorsätzlich.

Peitzner muss akribisch Akten wälzen. Keine Frage darf vergessen, jeder Zweifel geäußert werden. Nicht eine Zeugenaussage darf unter den Tisch fallen. Die Nebenklage muss in allem, was sie tut, die Opfer-Seite stärken. Das Ziel ist wie in jedem fairen Verfahren: Diejenigen, die schuldig sind, gehören bestraft, und zwar gerecht.

Die vergleichsweise milde Abstrafung von Xenia I. gründet sich auf der Annahme, dass man der mutmaßlichen Mittäterin weitgehend Glauben schenken kann - ein großes Entgegenkommen, weil längst nicht alle Fragen beantwortet sind. Ihr Geständnis am zehnten Verhandlungstag, so Prozessbeobachter, bleibt bis zuletzt lückenhaft. Die Version von Xenia I. bescheinigt im Grunde nur die geringstmögliche Beteiligung. Was auf Videomitschnitten von Überwachungskameras erkennbar ist, das räumt sie ein - vielmehr aber nicht. Immer, wenn es für sie heikel werden könnte, verkriecht sich die Angeklagte in ihren Pullover, weint - und schweigt.

Der Kern ihrer Darstellung: Während ihr Freund im ersten Stock des Hauses die Studentin zu Tode martert, geht sie in ihre Wohnung und bringt die Kinder zu Bett. Der Mord findet ohne sie statt. Die Eltern von Yangjie Li, der Vater arbeitet selbst als Polizist, überzeugt das nicht.

Peitzner: „Da stellt sich doch von vornherein die Frage, was nach der Vergewaltigung passieren soll, zumal die Angeklagten die eigene Adresse zum Tatort gemacht haben.“ Soviel scheint indes sicher: Nichts ist passiert, was Yangjie Li hätte retten können. Xenia I. kehrt zurück, ohne Hilfe zu rufen.

Entsetzliche Gleichgültigkeit bei den Mördern der chinesischen Studentin

Das Publikum im Gerichtssaal reagiert. Es erkennt im Verhalten als ein ungeheuerliches Maß an Gleichgültigkeit. Das entsetzt, macht fassungslos. Sein Beruf verpflichtet Peitzner, in der Verhandlung die nötige Distanz zu wahren. Aber Familie Li kann die Gefühllosigkeit der Täter auch mit zeitlichen Abstand nicht verstehen.

Wie viele Jahre haben sie eisern gespart, um das Geld für das Studium ihrer Tochter zusammenzubringen. Das Kind sollte doch später in China eine gesicherte Zukunft haben - als Architektin, deshalb der Aufenthalt in der weltberühmten Bauhausstadt. Der unfassbare Verlust löst Selbstvorwürfe aus. Hätte man anders entscheiden müssen? „Die Familie ist zerstört und leidet still“, fasst Peitzner seine Eindrücke zusammen.

Der Anwalt macht kein Geheimnis daraus, dass auch ihn der Dessauer Fall in besonderer Weise berührt. Ein Pärchen als dringend Tatverdächtige, ein extrem hilfloses Opfer, eine besondere Brutalität und Hinterlist - das ergibt eine gruselige Mischung, die diesen Mord von anderen Gewalttaten unterscheidet.

Juristen indes neigen nicht dazu, sich an Spekulationen zu beteiligen. Andererseits ist es schlicht unmöglich, dass spezielle Täter-Milieu zu ignorieren.

Auch die Eltern von Yangjie Li wollen wissen, in welcher Welt sind die Mörder ihres Kindes zu Hause? Gründe, auch da immer weiter zu fragen, lassen nicht lange auf sich warten. Woher kommt beispielsweise die „fremdenfeindliche Attitüde“ der Tat, wie sie ein Gutachten beschreibt?

Auf der Anklagebank sehe man sich besonders verfolgt, weil Yangjie Li Chinesin war. Reue klingt anders, meinen nicht nur die Hinterbliebenen. (mz)

Die Anklage im Yangjie-Li-Prozess lautete auf gemeinschaftlichen Mord.

11. Mai 2016, 20.30 Uhr: Yangjie Li verlässt die Wohnung zum Joggen. Die Studentin ist eine versierte Läuferin, trainiert mehrmals pro Woche.

21.24 Uhr: Es ist eines der wichtigsten Beweismittel: Ein Video zeigt, wie Yangjie Li vor dem Haus in der Johannisstraße 7 von einer Frau angesprochen wird. Yangjie Li wirkt unschlüssig, blickt sich auf der Straße um - folgt der Frau aber dann ins Haus.

21.26 Uhr: Sebastian F. fällt über Yangjie Li her, wendet massive Gewalt an und vergewaltigt sie. Im Hausflur und in der Wohnung finden die Ermittler später mehr als 300 Blutspuren.

21.40 Uhr: Ab diesem Zeitpunkt ist das Handy von Yangjie Li ausgeschaltet. Von dem Gerät fehlt trotz umfangreicher Suche bis heute jede Spur. Auch einige Kleidungsstücke von Yangjie Li sind bislang nicht gefunden worden.

24 Uhr: Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Yangjie Li in der Tatwohnung drei Stunden liegen gelassen wurde, „in der Annahme“, heißt es in der Anklage, „dass sie alsbald versterben wird“.

12. Mai, gegen 2 Uhr: Sebastian F. soll eine 120-Liter-Mülltonne geholt haben, um Yangjie Li aus dem Haus zu bringen. Auch das berichtet Xenia I. in ihrem Teilgeständnis. Zuvor soll Sebastian F. den Kopf der Studentin in einen Wassereimer getaucht haben. Xenia I. leuchtet mit ihrem Handy den Weg durch den Hinterhof.

2.24 Uhr: Ein erst spät gesichertes Überwachungsvideo aus dem Antiquitätengeschäft im Erdgeschoss zeigt einen Mann, der aus dem Eingang kommt und um das Haus herum läuft. Die Gerichtsmedizinerin sagt später aus, dass Yangjie Li am frühen Morgen des 12. Mai beziehungsweise in den Stunden danach gestorben ist. (mz)

Diese bewegenden Zeilen der Eltern haben chinesische Studenten am Freitag verlesen. An jenem Ort in Dessau, an dem  die 25-jährige Yangjie Li am 13. Mai 2016 missbraucht und ermordet gefunden worden war. 

In  der chinesischen Trauerkultur  glaubt man, dass  die Seele eines Toten  nach einem Jahr an den Sterbeort zurückkehrt:  Mit ihrem Brief sprechen die Eltern ihr Kind deshalb direkt an.

Und zeichnen ein Bild ihrer Tochter, wie sie in Erinnerung bleibt - kreativ, leidenschaftlich und liebevoll. Als eine junge Frau, die zielstrebig war und sich ihre Zukunft genau ausgemalt hatte.

Die Eltern  sprechen vom eigenen Leben in China, das nach dem unfassbaren  Verlust keines mehr  ist. Die Zeilen erneuern aber auch die Vorwürfe an die örtlichen Behörden in Dessau.

Misstrauen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland

Die Eltern sind weit weg in der chinesischen Provinz Henan. In Dessau wird der Mord an ihrem Kind vor dem Landgericht verhandelt, der Prozess  steht vor dem Abschluss.

Es spricht Misstrauen gegenüber der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland aus dem Brief. Dass ein Oberstaatsanwalt die Ehre ihrer Tochter beschädigt hatte, indem er die Version der mutmaßlichen Täter von freiwilligem Sex zu Dritt verbreitete, hat die Familie tief verletzt.

Trotzdem formulieren sie die Hoffnung, dass die mutmaßlichen Täter  nach  höchstem Strafmaß verurteilt werden. (mz)

Anwalt Sven Peitzner muss den Hinterbliebenen von Yangjie Li erklären, was in Dessau geschieht.
Anwalt Sven Peitzner muss den Hinterbliebenen von Yangjie Li erklären, was in Dessau geschieht.
Markus Wächter