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MZ-Gespräch von 2017 Otto Mellies aus seinem langen sehr erfolgreichen - aber auch tragischen Leben - "Glück allein reicht nicht"

Von Andreas Montag 23.12.2017, 09:00
Otto Mellies in seiner Wohnung vor der Kopie des Gemäldes „Pappelallee im Herbst“ von Vincent van Gogh.
Otto Mellies in seiner Wohnung vor der Kopie des Gemäldes „Pappelallee im Herbst“ von Vincent van Gogh. Andreas Montag

Berlin - Der Schauspieler Otto Mellies wurde am 19. Januar 1931 in Schlawe (Pommern) geboren. Er war das jüngste von acht Kindern seiner Familie, der Vater diente als Luftwaffenoffizier. 1945, als die Rote Armee eingerückt war, gingen seine Mutter und eine seiner Schwestern freiwillig in den Tod, auch die Kinder der Schwester starben.

Otto Mellies, gerade 14 Jahre alt, blieb allein zurück. Er erzählt, wie er nach Deutschland und mit 16 zur Schauspielschule in Schwerin kam - und was ihm, einem der renommiertesten ostdeutschen Darsteller, das Theater bedeutet. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren lebt Otto Mellies heute in einem Seniorenstift am Rande von Berlin. Das Gespräch führte Andreas Montag.

Herr Mellies, Weihnachten ist die Zeit für Gefühle. Wie geht es Ihnen damit?
Otto Mellies: Ich bin durchaus nicht sentimental, obgleich ich manchmal von Gefühlen bestimmt werde. Da kann man machen was man will: Weihnachten kommen die Erinnerungen an die Kindheit, an das Elternhaus, an Menschen, die es schon lange nicht mehr gibt auf dieser Erde. Wenn ich dann schöne Musik höre, werde ich zwar nicht rührselig, aber gerührt.

Welche Musik hören Sie dann? Händel? Bach?
Mellies: Beide schätze ich. Aber unschlagbar ist Mozart für mich. Leben, Tod, Liebe und Hass - all das ist in seiner Musik. Und „Don Giovanni“ ist das Größte überhaupt.

Leider ist es so, dass ich mir Opern nur noch anhöre, nicht mehr ansehe. Es gelingt mir nicht mehr, eine Aufführung zu erwischen, die meinen Ansprüchen genügt. Das Modernistentum in der Kunst greift auch auf die Oper zu. Vom Schauspiel gar nicht zu reden.

Was ärgert sie besonders?
Mellies: Ich war unlängst im Berliner Ensemble und sah den „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht. Das hat mir einen Schlag versetzt. Ich bin nicht schlau daraus geworden. Azdak war mit einem Eimer Blut übergossen worden. Daneben stand einer, der in seine Hose griff und onanierte. Was soll das? Man geht hinaus und sagt sich: Danke, es reicht!

Sie blicken auf eine lange, erfolgreiche Karriere zurück. Ist es nicht so, dass das Theater sich ständig erneuern muss?
Mellies: Ich habe 50 Jahre lang am Deutschen Theater in Berlin gespielt. Davor sieben Jahre in der Provinz, was ich nicht abwertend meine. Im Gegenteil: Ich habe großen Respekt vor der harten Arbeit der Kollegen. Ich erinnere mich an meine Zeit in Neustrelitz. Damals fuhren wir zu Abstechern mit einem offenen LKW, im Winter kam eine Plane darüber.

Und sie haben unterschiedliche Handschriften von Regisseuren kennengelernt.
Mellies: Ich bin den verschiedensten Stilarten begegnet. Während meiner Ausbildung galt Stanislawski: Man muss in der Figur drin sein, man muss sie atmen, leben. Dann kam Brecht, oftmals völlig falsch verstanden: Man sollte neben der Figur stehen, den Text nur aufsagen. Brecht war da wohl durchaus anderer Meinung. Er war längst nicht so engstirnig, wie manche Theoretiker das später auslegten.
Wenn man mich heute fragte, wie Theater gespielt werden soll: Ich weiß es nicht so recht. Ich habe keine Lösung, ich bin nicht der Weise, auch wenn ich den Nathan so oft gespielt habe.

Wie viele Male eigentlich?
Mellies: 325 Mal, in 18 Jahren.

Und wenn es schon keine Lösung gibt: Wie wünschen Sie sich das Theater?
Ich weiß nur: So, wie es jetzt oft geschieht, geht es nicht. Inhalte werden verfälscht, die Texte sind unverständlich. Das Interessante ist nur, dass das Publikum um mich herum diesen „Kreidekreis“ toll fand. Für mich war es, auf Deutsch gesagt, große Kacke.
Modernes Theater muss natürlich seinen eigenen Zugang zu den Stoffen finden. Aber die modernistischen Zutaten sind in meinen Augen nur ein Zeichen für geistige Inkompetenz der Regisseure. Da dauert „Faust II“ nur noch fünf Viertelstunden. Ob die andere Richtung, wie etwa Peter Stein sie vertritt, der zehn Stunden dafür braucht, die richtige ist, bezweifle ich allerdings auch.
Ich bin zum Glück in einem gesegneten Alter und muss die Lösung nicht mehr finden. Schlimm ist nur, wenn auch kleinere Bühnen diesen Regie-Unfug aufnehmen. Dann wird es ganz peinlich.

Eröffnet dieses Regie-Theater nicht aber den Schauspielern auch neue Möglichkeiten?
Mellies: Das würde ich tatsächlich bezweifeln. Es kommt mir im Gegenteil leicht, zu leicht vor, eine Rolle in einer angenommenen Masche herunterzuspielen. Der Schauspieler muss mehr können, wenn man pures Theater spielt.

Pures Theater?
Mellies: Das bedeutet, der Figur, wie sie der Autor vorgegeben hat, möglichst genau nachempfinden zu können. Wir sind doch Menschendarsteller, wir müssen in sie hineinschauen. Das ist schwerer als all die Zappelei und nackte Menschen. Dabei habe ich gar nichts gegen nackte Menschen, aber manchmal sind sie völlig überflüssig auf der Bühne, weil nichts davon im Stück steht.

Das Theater ist ihnen immer am wichtigsten gewesen?
Mellies: Für mich war das Theater die Mutter der Kunst. Alles andere, Film, Fernsehen, Rundfunk, habe ich nebenbei getan. Aber es hat mir alles Spaß gemacht.

Noch einmal zum Nathan, ihrer Paraderolle: Hat sich Ihre Wahrnehmung der Figur verändert im Lauf der Zeit?
Das, was man selbst erlebt hat, Leid und Freude, fließt in die Figur ein. Wenn ich jetzt noch einmal die Ringerzählung aus dem „Nathan“ lese, dann stelle ich fest, das ich Dinge immer noch tiefer sehe. Man ist nie fertig mit sich selbst.

Das Stück selbst ist vielleicht aktueller denn je?
Mellies: Lessing war ein Schlitzohr. Der hat Sachen von großer Gültigkeit in sein Stück geschrieben: „Was ist das für ein Gott, der muss für sich kämpfen lassen?“

Mit welchem Regisseur haben Sie am liebsten gearbeitet?
Mellies: Ich habe unter acht Intendanten am deutschen Theater gearbeitet. Am leuchtendsten steht mir Wolfgang Langhoff vor Augen. Ich war 25 Jahre alt, als ich zu ihm kam. Dieser Mann hatte wunderbare, um nicht zu sagen geniale Ideen als Regisseur. Was ich damals begriffen habe: Ein Stück nicht naturalistisch zu sehen, sondern wie durch ein Brennglas herangezogen. Vergrößert. Spannend gemacht.

Sie haben Ihr Haus geliebt?
Mellies: Für mich war dieses das beste Theater im deutschsprachigen Raum. Nach der Wende wurde ich gefragt, weshalb ich nicht auch nach drüben gegangen wäre. Ich fragte zurück: „Warum? Ich habe ein Haus und eine Familie. Ich bin an einem großartigen Theater engagiert und ich spiele wunderbare Rollen.“

Viele Ihrer Kollegen sind nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 aus politischen Gründen in den Westen gegangen.
Mellies: Und aus finanziellen. Das darf man nicht vergessen. Ich spreche hier nicht von Biermann. Viele, die gingen, blieben DDR-Bürger, behielten ihre Wohnung hier im Osten und verdienten im Westen Geld. Es ging ihnen nicht so schlecht. Aber das muss jeder mit sich selbst abmachen.

Und das politische Klima in der DDR? Es gab zuletzt ja eine deutliche Agonie.
Mellies: Ich habe mich wohl gefühlt. Bis auf diese Währungsunterschiede, die Intershops. Wir haben unsere Arbeit am Deutschen Theater in relativ großer Freiheit tun können. Beim Fernsehen war das anders. Das unterstand der Abteilung für Agitation und Propaganda beim Zentralkomitee der SED. Die Theater gehörten zum Kulturministerium. Das war schon ein Unterschied. Viele Kollegen haben ihre politische Meinung sehr deutlich gesagt, ohne dass ihnen etwas geschehen wäre.

Sie arbeiten als Synchronsprecher, lesen Hörbücher ein. Gelegentlich drehen Sie auch Filme. Was kommt noch?
Mellies: Die Regisseure schätzen es, dass ich ohne Umstände an die Arbeit gehe. Gerade ist mir eine Rolle in einem „Tatort“ angeboten worden, von einem Regisseur, mit dem ich schon gearbeitet habe. Wenn die Rolle gut ist, werde ich sie annehmen. Aber nur dann. Das ist das Glück des Alters.

Glück ist das Stichwort: Sie haben ein langes, erfolgreiches, aber auch tragisches Leben hinter sich. Was bedeutet also Glück für Sie?
Mellies: Ohne Können geht gar nichts. Aber ohne Glück auch nicht. Mein ganzes Leben ist von Glück begleitet. Ich hätte etliche Male tot sein können, als ganz junger Mensch schon.

Und Glück ist vielfältig. Ich war in Erfurt engagiert und fühlte mich etwas deprimiert. Es fehlten mir neue Regie-Impulse. Ich sprach mit meiner Frau darüber, als ich 1955 nach einer Vorstellung mit ihr spazieren ging. Das war an einem Samstagabend. Am nächsten Morgen wurde ein Telegramm unter der Tür durchgeschoben. Darin stand: „Wäre an Vorsprechen interessiert. Wolfgang Langhoff, Deutsches Theater.“

Sie fuhren natürlich hin!
Mellies: Ich werde nie vergessen, wie ich dorthin kam. Morgens um Vier war ich in Erfurt losgefahren, am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin trank ich Kaffee aus dicken Mitropa-Tassen. Um Zehn sollte ich im Deutschen Theater sein.

Als ich auf die Bühne trat, saßen im Zuschauerraum Wolfgang Langhoff, der Dramaturg Heinar Kipphardt und als Gast Herbert Ihering, der berühmte Kritiker. Ich sprach etwas aus „Wallenstein“, in Erfurt spielte ich damals den Max Piccolomini. Danach kam Langhoff zu mir und sagte: „Mein lieber Mellies, ich möchte sie engagieren.“
Seine Bedingung: Ich sollte mich gleich für vier Jahre verpflichten. Ob ich einverstanden sei? Das war ich natürlich! Aber ich verwies auf meinen laufenden Vertrag. „Den löst mein Minister“, sagte Langhoff. Der Minister war Johannes R. Becher. So kam es dann auch. Das war Glück. Aber Glück allein reicht eben nicht.

Und was macht sie glücklich?
Mellies: Das verändert sich im Leben sehr. Heute, in meinem Alter, macht mich ein gutes Verhältnis zu meinen Mitmenschen glücklich, die ich gern habe und die mich gern haben. Das ist ganz wichtig. Glücklich macht mich auch, noch einmal eine Frau zu treffen, bei der ein Funke überspringt. Das habe ich gerade erlebt.

Nach dem Tod Ihrer Mutter und weiterer Angehöriger hat Sie eine Ihrer Schwestern aus dem nunmehrigen Polen herausgeholt. Das ist auch eine Glücksgeschichte.
Mellies: Meine Schwester Irmgard hatte gehört, der Ottsch, so wurde ich genannt und werde es heute noch, sei am Leben, die anderen wären alle tot. Sie hat sich sofort auf den Weg gemacht, ist bei Stettin auf einen Bahnhof gegangen, zu einem russischen Militärtransport. Sie sprach einen Offizier an, der hatte wohl einen Sohn in ähnlichem Alter wie ich. Der Mann hat sie in dem Zug mitfahren lassen, bis nach Stolp. Dort, wo wir zu Hause gewesen waren, hat Irmgard nach mir gesucht.

Aber Sie waren gar nicht da?
Mellies: Ich war in Bornzin, 16 Kilometer entfernt auf einem ehemaligen Rittergut, als Pferdejunge bei den Russen. Also hat sie sich zu Fuß aufgemacht. Wir brachen gerade nach Stolp auf, die Russen verließen das Land, das nun polnisch war. Auf der staubigen Landstraße sind wir uns dann begegnet. Es war ein sehr sonniger Spätsommertag des Jahres 1945. Plötzlich hörte ich Irmgards Stimme: „Ottsch?“ Es war unglaublich.

Wie kamen sie dann heraus?
Mellies: Wir fuhren nach Stolp. Dort gingen wir zum Bahnhof, trafen auf einen polnischen Milizionär. Der nahm uns zunächst unsere Jacken weg. Dann zeigte er uns einen einen Güterzug. Der war voller Menschen. Deutsche. Die ersten, die aus Ostpreußen nach Westen abgeschoben wurden. Wir wurden in einen Waggon gedrückt, in der Abenddämmerung fuhr der Zug los. Sehr langsam.

Und dann kam es zu einer Szene, die man im Film als Superkitsch bezeichnen würde. Es wurde Nacht, an der Strecke brannte ein Bahnwärterhäuschen. Irmgard hatte die Tür des Waggons einen Spalt breit aufgeschoben. Da sagte sie die alten Verse: „Maikäfer flieg. Vater ist im Krieg. Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.“
So war ja ja auch: Vater und Brüder im Krieg. Die Mutter tot, die Schwester und ihre Kinder ebenso. Und der Zug fuhr in die Nacht.

Wie ging es weiter?
Mellies: Zunächst kamen wir nach Stettin. Auf einem Güterbahnhof lagen in der Nacht deutsche Flüchtlinge auf dem Boden. 800, vielleicht 1 000 Menschen. Auf dem kahlen Boden. Sie schrien um Hilfe wegen der Diebesbanden, die ihnen noch das Letzte nehmen wollten. Die Schreie halfen: Russische Posten kamen, die noch die Bahnhöfe kontrollierten. Einer alten Frau, der es schlecht ging, sollte ich Wasser holen. Als ich damit zurückkam, war sie gestorben.

Dann fanden wir einen Zug, voller Russen, der in die sowjetische Zone fahren sollte. Der Lokführer, ein Deutscher, sagte, die würden uns nicht mitnehmen. Wir versuchten es dennoch. In einem der Waggons wollten sie dann meiner Schwester die Kleider ausziehen, begrapschten sie. Die Tür war mit Draht versperrt. Ich sah von draußen durch das Fenster, was geschah und begann zu brüllen. Als Pferdejunge bei den Russen hatte ich ihre derben Flüche gelernt, dazu schlug ich an die Scheibe. Sie öffneten die Tür und warfen meine Schwester hinaus.

Und wie kamen Sie schließlich nach Deutschland?
Mellies: Der Lokführer dieses Zuges ließ uns auf dem Tender, flach auf den Kohlen liegend, mitfahren. Am Morgen erreichten wir Angermünde. Wir versuchten, uns provisorisch zu reinigen. Dann kam ein richtiger Personenzug, der nach Güstrow fuhr. Wir hatten keine Fahrkarten, stellten uns schlafend. „Lassen Sie die in Ruhe“, sagte jemand zum Schaffner, „sehen Sie nicht, woher die kommen?“ Was für ein Glück!

So bin ich zunächst nach Wismar gekommen. Dort erhielt ich die Nachricht, dass mein Vater am leben war. Er war aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Diepholz im Westen entlassen worden. Dorthin hat meine Schwester mich dann gebracht, über die „grüne Grenze“.

Aber das war nur ein vorübergehender Aufenthalt?
Mellies: Dort habe ich vom Spätherbst 1945 bis zum Frühjahr 1947 gelebt. Dann lud mich meine Schwester nach Wismar ein. Sie hatte dort Wohnung gefunden. Der Mann einer anderen Schwester war Landrat in Schwerin geworden, die holten mich dann zu sich. Da war ich 16 Jahre alt. Und dann las ich die Annonce, dass man sich an der Staatlichen Schauspielschule in Schwerin bewerben könne. So bin ich zum Theater gekommen.  (mz)