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So kam Stalins Rache nach Sachsen-Anhalt So kam Stalins Rache nach Sachsen-Anhalt: Riesenbärenklau war Geschenk aus dem Kaukasus

Von Ralf Böhme 20.10.2017, 08:00
Zeitzeuge Heinrich Laas war verantwortlich für die Aussaat des Kaukasus-Imports im ehemaligen Institut für Pflanzenzucht.
Zeitzeuge Heinrich Laas war verantwortlich für die Aussaat des Kaukasus-Imports im ehemaligen Institut für Pflanzenzucht. Engelbert Pülicher

Strenzfeld - Wenn jemand aus Strenzfeld bei Bernburg eine weite Reise macht, kehrt er nicht mit leeren Händen zurück. So hielten es jedenfalls die Wissenschaftler des damaligen Institutes für Pflanzenzucht, die Anfang der 1960er Jahre die Sowjetunion bereisten. Reich beschenkt von ihren Partnern im Kaukasus brachte die Delegation auch einen großen Sack voll exotischer Samen mit. Am Ende entpuppte sich das Ganze als „Stalins Rache“.

Riesenbärenklau wurde aus der Sowjetunion als Futterpflanze eingeführt

Auf dem Frachtschein stand lediglich ein lateinischer Begriff, wie in der Botanik üblich: Heracleum mantegazzianum - zu deutsch Riesenbärenklau. Auf diesem ungewöhnlichen Import lagen die größten Hoffnungen, nun bald über eine neue Futterpflanze zu verfügen. Niemand konnte ahnen, dass sich daraus eines der größten Ärgernisse entwickelt. Das Doldengewächs, das mehr als vier Meter in die Höhe wachsen kann, breitet sich immer mehr aus - mit teils gefährlichen Folgen.

Als invasiv werden Arten bezeichnet, die ursprünglich nicht in unseren Breiten leben, sich jedoch mittlerweile hier stark verbreitet haben. Schätzungen zufolge gibt es mehr als 12.000 gebietsfremde Arten in Europa, zehn bis 15 Prozent davon gelten als invasiv. Die Europäische Union hat im August 2016 erstmals 37 zu bekämpfende Tier- und Pflanzenarten benannt, die mit ihrer Ausbreitung Lebensräume, Arten oder Ökosysteme beeinträchtigen und daher der biologischen Vielfalt schaden können. Auf der Liste stehen unter anderem auch die Gelbwangen-Schmuckschildkröte und die Nordamerikanische Buchstaben-Schmuckschildkröte.

Allein in Deutschland wurden bisher etwa 1.150 nicht-heimische Tier- und 12.000 Pflanzenarten registriert. Die meisten können sich zwar nicht fortpflanzen, aber über 600 eingeschleppte Pflanzen und über 260 Tiere haben sich fest etabliert. Ist ein geeigneter Lebensraum vorhanden, so die Einschätzung der meisten Wissenschaftler, helfen selbst radikale Ausrottungsaktionen nicht mehr.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind indes kaum zu unterschätzen. In Deutschland wurde eine Studie veröffentlicht, wonach zwanzig invasive Arten einen Schaden von 167 Millionen Euro im Jahr 2002 verursacht haben. Alleine der Riesenbärenklau , der viele andere Pflanzen verdrängt und ganze Ökosysteme verändern kann, verursacht 12,3 Millionen Euro Kosten. Dazu gehören zusätzliche Ausgaben im Gesundheitsbereich, Produktionsausfälle und -schäden, Minderung von Ernten, erhöhter Pestizideinsatz in Land- und Forstwirtschaft.

Ein besonders bekanntes Beispiel für invasive Tierarten ist der nordamerikanische Waschbär. Er wurde bereits 1927 als Pelztier nach Deutschland eingeführt und weitet sich seither in Europa aus. Der Waschbär ist ein Allesfresser und räubert auch gern Vogelnester. (mz)

Lange behielt Heinrich Laas seine Erfahrungen mit dem Riesenbärenklau für sich, fast fünf Jahrzehnte. Nach MZ-Berichten erklärt der Mann, der damals für die Bestellung des Versuchsfeldes verantwortlich war, seine Sicht auf die Dinge. Hier seine Erinnerungen: Der Samen wurde auf einer Fläche ausgebracht, die mindestens halb so groß wie ein Fußballfeld war. Auf bestem Boden ging die Saat dann auch bald auf und die Pflanzen gediehen prächtig. „Deshalb herrschte anfangs bei uns ein großer Optimismus“, erinnert sich Laas.

Riesenbärenklau als Futterpflanze? Die Kühe rochen nur daran

Allerdings stand noch der Praxistest aus. Zur Ernte der Mammut-Stauden wurde die modernste Technik geordert. Der gerade neu entwickelte Mähhäcksler E 065 aus Sachsen sollte die kräftigen Stängel kappen, zerkleinern und auf den Futterhänger werfen. So war es gedacht, aber das funktionierte nicht. „Nach kurzer Zeit blieb die Maschine stecken.“ Grund war immer wieder eine Verstopfung. „Um sie zu beheben, mussten häufig eine bestimmte Klappe geöffnet und dort die Pflanzenteile entfernt werden.“

Mit Verspätung verteilten die Melker schließlich das frische Grünfutter. Doch die Kühe, die es fressen sollten, rochen nur daran. Laas spricht von einer völlig untypischen Reaktion: „Erst als die Kühe hungrig wurden, legte sich die Abwehr und sie probierten den Riesenbärenklau.“ Mit sehr überschaubarem Erfolg, wie der Zeitzeuge sagt. Das meiste blieb nämlich liegen, musste später von den Melkern entsorgt werden. Daran änderte sich auch nichts, als man die Futterstückchen anders und vor allem kleiner schnitt. „Da war nichts zu machen. Den Tieren schmeckte es einfach nicht.“

Mit Riesenbärenklau war das Problem der Futterknappheit nicht zu beheben

Sang- und klanglos wurde der Acker abgeerntet. Die Institutsleitung musste sich eingestehen, dass mit Riesenbärenklau das Problem der Futterknappheit nicht zu beheben ist. Der nutzlose Ertrag wanderte auf den Kompost. Anderes wurde einfach untergepflügt. Der Ordner mit den wissenschaftlich erfassten Ergebnissen fand seinen Platz im Archiv. Heute sind diese Unterlagen nicht mehr auffindbar.

Der Riesenbärenklau scherte sich nicht darum. Er blieb. Was in Vergessenheit geraten sollte, ließ sich nicht mehr verjagen. Im Gegenteil. Die robuste Pflanze lebte nicht nur weiter, sondern verdrängte in der Umgebung rasant einheimische Gewächse. „Zuerst auf den Randstreifen des Versuchsfeldes, dann zwischen den Bäumen nebenan.“ Später standen mächtige Exemplare entlang der Straße nach Neugattersleben. Und immer weiter, Wind und Wasser übernahmen die Verbreitung über ganz Sachsen-Anhalt. Laas kennt den Grund des Vormarsches: „Die Natur hat den Riesenbärenklau verschwenderisch ausgestattet.“ Eine einzige Pflanze bringt bis zu 50 000 Samen hervor.

Riesenbärenklau: „Über Nebenwirkungen hat sich damals niemand einen Kopf gemacht“

In die Warnungen wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die der Riesenbärenklau hervorrufen kann, will der 89-Jährige indes nicht einstimmen. Obwohl unmittelbar mit der Pflanze befasst, habe er selbst keine der gefürchteten Hautverbrennungen erlitten. Außerdem berichtet er von einer Art Selbstversuch. Dazu habe man Saft des Riesenbärenklaus auf den Unterarm verrieben und sich danach gesonnt - keine Reaktion.

Auch seine Kollegen, die bei der Ernte halfen, seien schadlos davon gekommen. Nicht einmal die Kühe, die zumindest geringe Mengen vertilgt hätten, fielen danach durch irgendwelche Eigenarten auf. Worauf diese wunderbare Immunität zurückzuführen sei, müsste noch erforscht werden. Fest steht laut Laas nur: „Über Nebenwirkungen hat sich damals überhaupt niemand einen Kopf gemacht.“ Da verwundert es nicht, dass etliche Strenzfelder den Riesenbärenklau sogar als große Zierpflanze schätzten. „Bei mir im Hühnerauslauf stand auch so ein Riese.“ Eine Zeit lang habe er Teile der Pflanze sogar an seine Kaninchen verfüttert, so Laas. „Das war ganz normales Knabberzeug für diese Tiere.“

Furocumarin im Riesenbärenklau verursacht schwere und schlecht heilende Wunden

So entspannt können es andere, die mehr um die Gefahren wissen, nicht sehen. Als besonders problematisch gilt dabei das Furocumarin in den rauen Härchen des Riesenbärenklaus. Dieser Stoff verursacht zusammen mit Sonnenlicht schwere und schlecht heilende, Brandwunden ähnelnde Verletzungen. Die Ärzte nennen diese Erscheinung Fototoxizität, eine provozierte Überempfindlichkeit der Haut gegenüber UV-Strahlung. Die Folgen: Blasen auf der Haut, so groß wie eine Orange, und starke Schmerzen. Dazu kann es auch schon bei flüchtigen Berührungen der Pflanze kommen, beispielsweise bei Spaziergängen oder beim Joggen.

Ärzte warnen zudem, dass bereits der starke Eigengeruch des Riesenbärenklaus bei empfindlichen Personen heftige Atembeschwerden und andere allergische Reaktionen auslösen könne. Vor diesem Hintergrund wird auch der Appell der Gesundheitsbehörden verständlich, die beim Umgang mit der Pflanze unbedingt Schutzkleidung, Augen- und Atemschutz verlangen.

Riesenbärenklau: Einen landesweiten Überblick gibt es noch nicht

Längst geht es nicht mehr um einzelne Exemplare. „Wir reden hier von Gebieten mit tausenden Pflanzen“, sagt Katrin Lena Schneider von der Koordinationsstelle Invasive Neophyten in Halle, die sich um eine kartierte Erfassung der Vorkommen bemüht. Einen landesweiten Überblick gibt es aber noch nicht. Betroffene sollen deshalb das Auftreten von Riesenbärenklau zumindest den Naturschutzbehörden melden. Wie dann verfahren werden kann, muss man im Einzelfall entscheiden. Das ist dann aber immer ein Abwägungsfall zwischen Risiken und Kosten. Die öffentliche Hand übernimmt die Kosten nur, wenn eine Gefahr nicht anders abzuwenden ist oder der Riesenbärenklau in ein Naturschutzgebiet eindringt. Von Idylle wie im Kinderlied „Geht der gute Mond auf seine Reise“ kann keine Rede mehr sein. Im Riesenbärenklau sitzt die Igelfrau mit ihrem Igelmann - die beiden schauen sich zärtlich an. Ein Märchen, selbst in Strenzfeld. (mz)