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Fluchtversuch Fluchtversuch: Wie DDR-Grenzsoldaten einen 15-jährigen Hallenser erschossen

Von Anja Herold 10.12.2018, 08:17
Der tödliche Grenzabschnitt - Spurensicherung der Staatssicherheit an der Grenzanlage nach den Schüssen auf die Jugendlichen, 1979
Der tödliche Grenzabschnitt - Spurensicherung der Staatssicherheit an der Grenzanlage nach den Schüssen auf die Jugendlichen, 1979 BStU

Halle (Saale) - Der Junge wollte weg. Raus von zu Hause, weg aus Halle-Neustadt, aus der Schule. Dort gab es Probleme, die Abschlussprüfungen standen bevor, der Druck wuchs. In den Westen wollte Uwe Fleischhauer, „weil die da Deutsch sprechen“.

Der Schüler suchte einen Verbündeten und fand ihn in seinem Freund Heiko Runge. Auch der hatte Probleme und nichts dagegen, alles hinter sich zu lassen. 15 Jahre alt waren die beiden; naiv, wie man eben in dem Alter ist. Unwissend, wie eben DDR-Bürger manchmal waren.

Vorgänge rund um die Flucht von Staatssicherheit der DDR genauestens dokumentiert

Über die Grenze im Harzort Sorge wollten sie fliehen - Uwe Fleischhauer war dort einmal im Urlaub mit seinen Eltern. Damals hatte er den Grenzzaun gesehen und dachte, das müsse doch zu schaffen sein.

In den Akten der Staatssicherheit, archiviert und aufgearbeitet von der BStU-Außenstelle Halle, sind die Vorgänge rund um die Flucht genauestens dokumentiert: Am 8. Dezember 1979 machten sich die Jungs auf den Weg.

Mit dem Zug nach Nordhausen, von dort mit der Harzquerbahn weiter nach Sorge. Campingbeutel hatten sie dabei, darin ein paar Kleidungsstücke, Konservendosen, ein Radio, Bücher, Essbesteck. Gegen 15 Uhr, zuhause wurden sie da noch nicht einmal vermisst, erreichten die beiden den Wald.

Zaun an der Grenze löste den Alarm aus

Und liefen los in Richtung Westen. Sie erreichten einen Zaun, hängten einen Abschnitt davon aus, liefen weiter und dachten, die Flucht wäre damit erledigt. „Wie ein Spiel“ erschien ihnen das, sagte Uwe Fleischhauer später. Was sie nicht wussten: Der Zaun stand unter Niedrigspannung und löste einen Alarm aus, den sie nicht bemerkten.

Und was sie auch nicht wussten: Sie bewegten sich im Bereich der 7. Grenzkompanie - die galt als die beste der DDR. Der Kompaniechef war ein harter Hund - „die bedingungslose Vernichtung aller Grenzverletzer“ hatte er ausgerufen, sein Leitspruch war: „Bei Anruf erfolgt Magazinwechsel“. Soll heißen, ohne Warnschuss oder Anruf hatten die Soldaten sofort zu schießen. Ihnen drohte Gefängnis, verfehlten sie das Ziel.

14 bis 15 mal mussten Soldaten manchmal nachts raus, weil vor allem Tiere Alarm auslösten

Diese Soldaten nun wurden alarmiert durch die Berührung des Signalzaunes. Das war nichts seltenes, 14 bis 15 mal mussten sie manchmal nachts raus, weil vor allem Tiere Alarm auslösten.

An diesem Tag erreichte die Truppe um kurz vor 16 Uhr den zweiten Alarmzaun. Aller 150 Meter stand ein Postenpaar; Angst machte sich breit davor, dass tatsächlich ein Flüchtender zwischen den Bäumen auftaucht.

Die Jungs indes hatten die Fahrzeuge gehört, ihnen wurde mulmig. Sie schlichen gerade an einer Waldschneise entlang, als sie entdeckt wurden. Uwe Fleischhauer warf sich auf den Boden, Heiko Runge rannte zurück.

DDR-Grenzer schossen sofort auf den Hallenser

Die Grenzer schossen sofort, davon ist Fleischhauer bis heute überzeugt, wie er gegenüber der MZ sagte: „Die haben uns nicht gewarnt.“ Er hatte Glück, er wurde nicht getroffen. Für seinen Freund aber war einer der abgegebenen 51 Schüsse tödlich.

„Jetzt looft das Schwein aus“, sagte der Kompaniechef dazu. „Der erlebt Weihnachten sowieso nicht mehr“, sagte ein Grenzer. Uwe Fleischhauer hörte das und ahnte, was geschehen war. Offiziell erfuhr er vom Tod seines Freundes erst drei Wochen später von seinem Rechtsanwalt.

Was geschehen war, war eine Katastrophe. Für Heiko Runge natürlich, für seine Familie, für seinen Freund, der ihn schließlich erst zur Flucht ermutigt hatte. Aber auch für das SED-Regime. Selbst nach DDR-Recht durfte auf Jugendliche nicht geschossen werden.

DDR drohte, ein Image-Problem zu bekommen

Der Staat drohte, ein weiteres Mal ein Image-Problem zu bekommen. Der Westen dürfe nichts erfahren, verkündeten Honecker und Verteidigungsminister Hoffmann. Und so begann eine Vertuschungsaktion ohnegleichen.

Die Kleidung Heiko Runges wurde gleich am nächsten Tag verbrannt. Seine Leiche wurde nach Halle gebracht, der Totenschein gefälscht. Seine Familie erfuhr lediglich, dass der Sohn in der Nähe einer militärischen Einrichtung bei einem Unfall zu Tode gekommen sei.

Erst bei der Akteneinsicht in der BStU-Außenstelle Halle, wo der gesamte Vorgang dokumentiert war und aufgearbeitet wurde, las die Mutter, was tatsächlich passiert war an jenem Dezembertag. Die Akte Runge wurde von den Behörden einen Monat nach dem Vorfall geschlossen.

Zehnstündiger Verhörmarathon für Jugendlichen, der aus der DDR flüchten wollte

Uwe Fleischhauer indes durchlebte in der Nacht der Flucht einen zehnstündigen Verhörmarathon, erst in Wernigerode, dann in Magdeburg. Acht Monate Untersuchungshaft im Roten Ochsen folgten, dann Jugendknast in Dessau.

Er hatte die Anweisung, nicht über den Vorfall zu sprechen. „In der U-Haft habe ich schon darüber geredet. Aber in Dessau musste ich erzählen, dass ich wegen KfZ-Diebstahls einsaß.“ Dass sich Fleischhauer an die Schweige-Anweisung hielt, wurde von Spitzeln überwacht.

Er hielt sich daran, im Gefängnis zumindest. Unter welchem Druck er aber stand, verrät ein Brief von ihm an seine Eltern, geschrieben noch in der U-Haft. Daran kündigt er an, nicht mehr nach Halle-Neustadt zurückkehren zu wollen. „Es ist wegen Heiko“, schrieb er, „er ist tot, und ich bin an seinem Tod schuld. Ich habe ihn auf dem Gewissen.“ Der Brief erreichte die Eltern nie, er wurde nicht weitergeleitet.

Ein Jahr Gefängnis für versuchten Grenzübertritt

Uwe Fleischhauer wurde wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Er wurde auf Bewährung vorzeitig entlassen, ging zu seinen Eltern zurück und begann eine Ausbildung zum Chemikanten. Die Stasi versuchte noch, ihn als Spitzel zu werben, versprach ihm eine Wohnung als Gegenleistung.

Die Todesschützen wurden 1996 in Magdeburg zu einem Jahr auf Bewährung nach Jugendstrafrecht verurteilt, weil nicht ermittelt werden konnte, wer genau den tödlichen Schuss abgegeben hatte.

Uwe Fleischhauer ging 1991 in den Westen. Er lebt im Münsterland, arbeitet in der Chemiebranche, sitzt im Kreistag für die Grünen und im Vorstand eines Sportvereins. Lange, sehr lange hat es gedauert, bis die Schuldgefühle nachließen. „Ich konnte nicht vergessen, weil ich immer wieder daran erinnert wurde.“ Heute mache er sich keine Vorwürfe mehr. Und es sei okay für ihn, nach Halle zu kommen. (mz)