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Rechter Aussteiger erzählt Rechter Aussteiger erzählt: Als Halle noch Nazi-Hochburg war

Von Steffen Könau 16.04.2013, 11:28
Als „Hallesche Deutsche Jugend“ bezeichnete sich eine Nazi-Gruppe, die nach dem Mauerfall einen ganzen Gebäudekomplex in Halle besetzt hatte.
Als „Hallesche Deutsche Jugend“ bezeichnete sich eine Nazi-Gruppe, die nach dem Mauerfall einen ganzen Gebäudekomplex in Halle besetzt hatte. Steffen Könau Lizenz

Halle (Saale)/MZ - An den Moment, als alles losging, erinnert er sich genau. Eine Dorfdisko mitten in der Endzeit-DDR, triste Cola-Wodka-Stimmung mit Depeche-Mode-Musik. „Und auf einmal kamen da diese zwei Typen rein, Glatze, Springerstiefel und kein bisschen Angst im Gesicht.“ Henning Weber, der in Wirklichkeit anders heißt, war beeindruckt von seiner ersten Begegnung mit echten Nazi-Skinheads.

So beeindruckt, dass er wenig später selbst einer wird. Eben noch ist der 16-Jährige mit Grufties und Punks unterwegs gewesen. „Aber die bekamen dauernd Prügel und haben sich nie gewehrt.“

Weber ist anders. Er kuscht nicht. Er will zurückschlagen. Wie es Skinheads tun, die damals zu einer bunten Jugendszene gehören, in der Punks, Blueser, Skins und Grufties sich zumindest einig darin sind, den DDR-Staat und seine Institutionen einfach zu ignorieren. „Die Skins haben sich lieber zusammenschlagen lassen als klein beizugeben“, erklärt Weber heute, mehr als zweieinhalb Jahrzehnte danach.

Angeödet vom geheuchelten Sozialismus

Mit 16, angeödet vom ewigen Einerlei des geheuchelten Sozialismus, glaubt der groß gewachsene Junge aus Merseburg hier etwas Wahres und Echtes zu entdecken. „Wir waren anders als alle anderen und wir haben immer zusammengehalten.“ Weber lässt den Sport sein, der bis dahin sein Lebensinhalt ist. Er wird politisch - anfangs, weil ihm die sogenannte Oi-Musik gefällt, die in der Szene angesagt ist. Dann, weil rechts zu sein den DDR-Staat mehr provoziert als alles andere. Wegen seines scharfen Seitenscheitels nennen ihn die anderen bald „Addi“ wie Adolf. Er ist stolz auf den Namen.

In Sachsen-Anhalt werden rund 1300 Personen dem rechtsextremen Lager zugeordnet. Laut Verfassungsschutzbericht des Jahres 2011 waren darunter 760 gewaltbereite Rechtsextremisten und 290, die der organisierten Neonaziszene zuzurechnen sind. Der Verfassungsschutzbericht für 2012 wird erst im Sommer vorgestellt. Mit einem im März vorgestellten neuen Konzept will das Land insbesondere „Mitläufern“ im Alter zwischen 14 und 25 Jahren früh beim Ausstieg aus der Szene helfen. Dazu soll es zwei Beratungsteams beim Verfassungsschutz geben.

Im vergangenen Jahr gab es nach einem Bericht des Innenministeriums 2031 politisch motivierte Straftaten, darunter waren 1203 - überwiegend rechtsextreme - Propagandadelikte. Schwerpunkte rechter Straftaten insgesamt waren Dessau-Roßlau mit 105 Delikten pro 100000 Einwohner, der Landkreis Mansfeld-Südharz (83) und das Jerichower Land (82). Die Zahl der rechtsextrem motivierten Gewaltdelikte sank laut Statistik im vergangenen Jahr leicht um acht Fälle auf 84.

Bei Gewaltkriminalität macht der Verein „Miteinander“ eine andere Statistik auf. Die Beratungsstellen haben demnach 104 rechtsextreme Gewaltdelikte in Sachsen-Anhalt gezählt - mehr waren es in Sachsen (155) und Berlin (139), weniger in Brandenburg (95), Thüringen (74) und Mecklenburg-Vorpommern (59). Gemessen an der Zahl der Einwohner lag Sachsen-Anhalt danach an der Spitze. Der Unterschied zur Landes-Statistik erklärt sich unter anderem dadurch, dass „Miteinander“ auch Straftaten registriert, die nicht bei der Polizei angezeigt werden. Die meisten rechtsextremen Gewalttaten gab es laut Verein im Burgenlandkreis.

Mit dem Mauerfall beginnen die großen Jahre der organisierten Neonazis in Mitteldeutschland. Die selbsternannte „Hallesche Deutsche Jugend“ besetzt in der Kammstraße am Rande von Halle-Neustadt einen ganzen Gebäudekomplex. Die Polizei traut sich nicht in die Nähe. Die Stadt schickt Sozialarbeiter. Nachts ziehen die Rechten aus, um im Rotlichtmilieu oder bei besetzten linken Häusern zuzuschlagen. Am Wochenende kommen prominente Nazis zu Besuch, der Münchner Ewald Althans, Christian Worch aus Hamburg und der Thüringer Thomas Dienel, der später zu einem wichtigen Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrund wird.

Geführt von einem feigen Führer

Henning Weber verkehrt zu jener Zeit nur in den Randzonen der Bewegung. Mit inzwischen 20 Jahren ist er keiner, der gern Befehle ausführt. Dass er Gewalt abgelehnt habe, könne er nicht behaupten, sagt er heute. Im Gegenteil: Dirk F., damals Führer der Rechten in der Region, sei ihm feige vorgekommen. „Der wollte nicht kämpfen.“

Dabei gehört Gewalt dazu, sie gilt über Jahre quasi als einziges Verständigungsmittel zwischen linken und rechten Gruppen. „Mal haben wir die besucht, mal die uns.“ Henning Weber erinnert es als eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel: Mal macht die eine Seite Punkte, dann die andere. Mal fliegen Steine, mal brechen Knochen.

Selbst Leute, die sich aus DDR-Zeiten kennen, als sie auf dieselben Schulen gingen, im selben VEB lernten und trotz unterschiedlicher Frisuren denselben Ärger mit Polizei und Staatssicherheit hatten, prügeln sich für ihre Weltsicht krankenhausreif.

Karriere als Nazi beginnt in Halle

Halle ist in diesen Jahren eine Hochburg der Rechten, die wegen der Ereignisse in Rostock, Mölln und Hoyerswerda aber kaum Schlagzeilen macht. Als die Kammstraße 1992 ausbrennt und die Polizei die Ruine stürmt, sind die Besetzer verschwunden und alle Pläne von Ewald Althans, über eine neugegründete Partei hier Wahlerfolge einzufahren, Geschichte. Einige Führungsfiguren landen vor Gericht. Andere wenden sich ab. Webers Laufbahn als Neonazi aber beginnt nun erst.

„Wir sind auf Konzerte gefahren“, erzählt er, „da hat man Gleichgesinnte getroffen und ist gemeinsam von der Polizei schikaniert worden.“ Das schweißt zusammen, das habe allen das Gefühl gegeben, Widerstand leisten zu müssen. Weber reist nach Holland und England, lernt Nazis aus der ganzen Bundesrepublik kennen und erfährt Bestätigung. Zu viele Ausländer in Deutschland, zu viele, die nur als Kostgänger kommen.

Zu wenige, die das soziale Netz straffhalten helfen, so erzählen sie sich. Weber, der mittlerweile eine Ausbildung bei einer Krankenkasse macht, wird zum Demo-Touristen. Fast jedes Wochenende ist er zu einer Neonazi-Veranstaltung unterwegs. Die Woche nutzen er und seine Kameraden, die sich jetzt „Nationaler Widerstand“ nennen, zur Vorbereitung von Aktionen, zur politischen Bildung, wie er es nennt, und zur Planung von Treffen mit anderen Gruppen.

Ermittlungen laufen ins Leere

Weber ist intelligent. Er steigt auf. Anfang der 2000er Jahre ist er einer der Köpfe der rechten Szene in der Region. Sein bürgerliches Leben hat er hinter sich gelassen, „weil ich einfach kein verknöcherter Angestellter werden wollte wie die, mit denen ich im Büro saß“. Er ist nun von Beruf Neonazi, eine Art Hausherr der Nazi-Hochburg Halle. Das Räuber-und-Gendarm-Spiel ist sein Lebensinhalt.

Weber entwirft Strategien für Provokationen, er trommelt Truppen zusammen, um „Flagge zu zeigen“ wie er sagt. Das bringt Punkte. Mehrfach wird gegen ihn ermittelt, ein paar Mal muss er vor Gericht erscheinen. Verurteilt wird Henning Weber nie, wie er heute zufrieden konstatiert.

Respekt vor der Justiz

Klar sei für ihn immer gewesen, „dass das, was wir machen, nicht kriminell sein darf“, sagt er. Ein paar Autos von linken Gegenspielern entglasen, wie sie es nennen, das geht in Ordnung. „Genauso haben die unsere Autos entglast.“ Aber Bomben basteln oder Waffen sammeln, wie es die gleichaltrigen und ähnlich sozialisierten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nur 150 Kilometer entfernt zur selben Zeit tun? Nein. Weber schüttelt den Kopf. Das sei nie auch nur eine Möglichkeit gewesen. „Darüber hat bei uns niemand nachgedacht.“ Er selbst schon gar nicht.

Viel zu viel Respekt habe er vor der Justiz gehabt, zu viel Angst auch vor Schäden, die nicht wiedergutzumachen gewesen wären. Weber sieht sich als Überzeugungstäter, der andere überzeugen will. „Und uns war ja auch immer klar, dass unter uns V-Leute sitzen, die jedes Wort weitergeben.“ Dass Thomas R., einer aus der engeren Runde, unter dem Decknamen „Corelli“ für den Verfassungsschutz spitzelt, findet Weber dennoch bis heute erstaunlich. „Mehr zu erzählen, als wann wir zur nächsten Demo fahren, gab es doch gar nicht.“

Anerkennung für "Heldentaten"

Denn der Kampf gegen das „System“, das für Weber „demokratisch nicht zu reformieren ist“, wird hauptsächlich auf diesen Demonstrationen geführt, zu denen die Szene sich fast jede Woche irgendwo in der Republik trifft. Die Welt der Nazis ist klein und eng, jeder kennt jeden - oder wenigstens jemanden, der jemanden kennt. Jede Heldentat spricht sich so schnell herum und jeder, der sich reinhängt in die politische Arbeit, bekommt Anerkennung.

Dass Leute aus der Szene der Gesellschaft den Krieg erklären könnten, wie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt das zur selben Zeit tun, der Gedanke sei ihm nie gekommen, versichert Henning Weber.

Es sei bei allen „Aktionen“, Demonstrationen und Kämpfen immer darum gegangen, Stärke zu zeigen und zu beweisen, dass die extreme Rechte Massen mobilisieren könne. „Jeder Gegendemonstrant hat uns im Glauben bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Natürlich habe auch das Gemeinschaftserlebnis ein Rolle gespielt, das Gefühl, vom Staat ernst genommen zu werden. „Das hatten wir, wenn sie uns eingekesselt haben.“

Mehrere Jahre hat Henning Weber dieses Leben gelebt. Er steckt tief drin, er ist überzeugt von seiner Sache, glaubt sich auf einer Mission gegen Multikulti, korrupte Politiker und für einen „deutschen Volksstaat“, von dem aber genauere Vorstellungen nicht existieren. „Ich dachte, eines Tages kommt es wie 89 in der DDR und die Leute gehen auf die Straße, dann müssen wir die Strukturen haben, den Widerstand zu lenken.“

Show gehört zum Geschäft

Weber ist ein Rechtsaktivist, der keine Zweifel kennt, dafür aber jede Menge Gleichgesinnter. Die Verbindungen der 50 Hallenser, die zum harten Kern gehören, reichen nach Bayern, Sachsen und natürlich Thüringen. Sie nennen sich „Kameradschaften“ oder „Blood & Honour-Sektion“ und mit dem VS-Spitzel Thomas „Corelli“ R. macht einer von ihnen sogar beim Versuch mit, einen deutschen Ableger des Klu-Klux-Clans zu gründen.

Weber glaubt nicht an den „teutonischen Hokuspokus“. Aber er weiß, dass seine Jungs „auch ein bisschen Show brauchen“. So gibt es feierliche Fahnenweihen, geheime Konzerte im Saalkreis und nächtliche Sprühaktionen, die später als Siege gefeiert werden. „Wir hatten schon Zulauf“, sagt er, „aber viele wollten nicht selbst was machen, sondern bespaßt werden.“

Es gibt keinen Tag, von dem Weber heute sagen würde, er sei der gewesen, an dem er beschloss, Schluss zu machen. Einen „schleichenden Prozess“ nennt er seinen Abschied aus der Szene, der darin gipfelt, dass er spontan zu einem langen Urlaub über den Atlantik fliegt. „Vorher ist mir schon immer öfter durch den Kopf gegangen, dass das im Grunde alles Quatsch ist, was wir tun.“

Fast 20 Jahre ist Weber da schon als Rechtsradikaler unterwegs. Der Antifa gilt er längst als einer der Chefs der Rechten in der Region. „Aber wir hatten nichts erreicht.“ Es gibt keine Massen-Mobilisierung, keinen wachsenden Zustrom junger Leute. „Eher verschwanden Leute, wenn sie eine Familie gründeten.“ Geblieben seien oft die, mit denen nicht viel anzufangen war, weil sie „Scheiße bauten“, sobald sie betrunken waren.

Ausstieg ohne Hilfe

„Wir hätten ewig so weitermachen können“, sagt Weber heute. Als ihm das klar wird, ist er ist nicht ausgestiegen, er hat auch kein Exit-Programm besucht und öffentlich abgeschworen. Sondern einfach aufgehört und festgestellt, dass seine Entscheidung richtig war. „Anschließend ist doch alles in die Binsen gegangen, weil die ganze Sache bloß an ein paar Köpfen hing.“ Heute gebe es in Halle kaum noch eine organisierte Szene. „Die Zeiten sind vorbei.“

Als er dann vor zwei Jahren das erste Mal von den Morden hört, die der NSU zugeschrieben werden, ist der Szenekenner Henning Weber nicht weniger erstaunt als alle anderen. Er ist Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt am Anfang begegnet. Dass die drei aus einer ähnlichen Geschichte heraus zu so anderen Schlüssen gekommen sein sollen, will er bis heute nicht glauben.

Henning Weber, der inzwischen ganz bürgerlich in einer Stadt im Harz lebt, sieht hinter dem NSU bis heute ein Geheimdienstkomplett, eine Verschwörung mit unbekanntem Ziel. Anders kann es nicht gewesen sein, sagt er, und das klingt, als sei er etwas Großem, Bösem mit knapper Not entkommen.

Letzte Machtdemonstration der Szene war eine Demo im Jahr 2003.
Letzte Machtdemonstration der Szene war eine Demo im Jahr 2003.
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Als Halle noch Hochburg war: Nazi-Demo Anfang der 90er.
Als Halle noch Hochburg war: Nazi-Demo Anfang der 90er.
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