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Historie Historie: Abenteuer im gesprengten Bunker

Von KARINA BLÜTHGEN 16.04.2015, 08:34
In den Städtischen Sammlungen Wittenberg gibt es nur dieses eine Foto vom gesprengten Bunker nahe der Luthereiche. Die Sprengung erfolgte im Mai 1946, mehr ist darüber nicht bekannt.
In den Städtischen Sammlungen Wittenberg gibt es nur dieses eine Foto vom gesprengten Bunker nahe der Luthereiche. Die Sprengung erfolgte im Mai 1946, mehr ist darüber nicht bekannt. thomas KLITZSCH Lizenz

WITTENBERG - „Plötzlich rannte der ganze Verein in alle Richtungen davon. Und dann machte es auf einmal recht deutlich und laut und unüberhörbar ,bum’.“ Was sich im ersten Moment wie Abenteuer anhört, war es seinerzeit auch: Das „Erkunden“ der Reste des gesprengten Wittenberger Bunkers. Aber es war auch der pure Kampf ums Überleben, den Franz Prox als Kind nach dem Zweiten Weltkrieg in Wittenberg erlebte. Dorthin hatte es die Familie (ihn, seine Mutter und seine dreijährige Schwester) auf der Flucht von Oppeln über Jitschin und Großdöbern für einige Monate verschlagen.

Prox, der jetzt in Limburg wohnt, hat sich an die MZ gewandt, um von seinen Erlebnissen zu berichten. „Als wir am 19. Januar 1945 Oppeln mit einem Treck verlassen mussten, zeigte das Thermometer 25 Grad minus. Kleinkinder, Alte und Kranke waren die ersten Opfer als Treibgut des Krieges.“ So beginnt die Schilderung der Flucht, die erst im Juli 1947 bei Cuxhaven ein vorläufiges Ende fand. In Großdöbern fand die Familie zuerst Unterkommen. Als sein Vater im Sommer 1945 plötzlich vor der Tür stand, abgemagert, zerlumpt und verwundet mit einem Steckschuss im Oberschenkel, floh die Familie weiter. Denn im Ort war polnische Miliz, dem ehemaligen Soldaten drohte die Erschießung.

Über Dresden und Riesa kam die Familie nach Wittenberg und bezog „eine ,Bio-Wohnung’ in der Heubnerstraße 32 (im Sommer zog warme Luft durch die Wohnung, im Winter kalte, aber immer Frischluft). Das Leben war nicht einfach. Ich wurde noch einmal in die erste Klasse eingeschult, prügelte mich mit Sowjetsoldaten rum, die mich verfolgten und versuchte, mich am Kampf um das tägliche Brot zu beteiligen“. Im Winter zogen er und seine Schwester mit dem Bollerwagen los, um zwischen den Eisenbahnschienen Kohlenstücke zu sammeln. Wurden sie von Sowjetsoldaten erwischt, kippten die den Wagen um, die Kinder mussten ohne Kohle nach Hause.

Als Neunjähriger habe er der Wittenberger Stadtgang, einer Jugendbande angehört, erzählt Franz Prox weiter. Die habe dann sogar Kohle von den Waggons gestohlen. Einmal klaute sie einen ganzen Waggon. „Wie alles genau von statten ging, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hat der Diebstahl funktioniert. Die Dankbarkeit der Wittenberger war groß, denn jeder hatte etwas davon.“ Zur Kommunion 1946 gab es Bienenstich, in Ermangelung von Nüssen und Mandeln mit Bucheckern gebacken.

Und dann passierte der eingangs geschilderte „absolute Clou“. Die Straßengang erkundete den Trümmerhügel des gesprengten Bunkers an der Kreuzung gegenüber der Luthereiche. Wann genau es war, kann Franz Prox nicht sagen, weiß aber, dass alle jede Menge Schutzengel hatten. Zehn bis 20 Jungs waren am Bunker, liefen plötzlich los, und es gab eine Explosion. „Als die Stadtbande sich wieder traf, stellte sich heraus, dass irgend einer nicht gezündete Dynamitstangen (oder etwas ähnliches) in den Trümmern fand, die wer weiß wer angezündet hat.“ Die Sowjets hätten jedoch nie herausbekommen, was passiert sei.

Der Vater, der im Auftrag der Soldaten Schnaps brannte und nebenher einiges auch auf eigene Rechnung, wurde im Sommer 1947 verhaftet und kam nach Coswig ins Gefängnis. Bei einem Besuch seiner Familie in Wittenberg machten sich alle aus dem Staube, fuhren bis Helmstedt und weiter nach Cuxhaven. Ein Andenken aus Wittenberg sei ihm geblieben, fügt er hinzu. Durch das Tragen von Igelit-Schuhen, die den größer werdenden Jungen-Füßen heftigen Widerstand boten, habe sich auf dem Rist beider Füße ein Überbein gebildet. (mz)