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Angebahnt von Schalck-Golodkowski Angebahnt von Schalck-Golodkowski: Als DDR-Arbeiter in Stuttgart bauten

Von Steffen Könau 10.01.2014, 18:54
Fachleute aus Halle und Bernburg bauten 1989 in Stuttgart das Rotebühlzentrum - jeder zehnte Arbeiter diente nebenher dem MfS.
Fachleute aus Halle und Bernburg bauten 1989 in Stuttgart das Rotebühlzentrum - jeder zehnte Arbeiter diente nebenher dem MfS. Andreas weise/Factum Lizenz

Bernburg/Stuttgart/MZ - Die Nachrichten, die nach einem halben Jahr aus Schwaben kommen, sind für die Chefetage der Staatssicherheit beruhigend. Für Dezember seien Ausflüge beantragt gewesen, meldet ein Inoffizieller Mitarbeiter aus Stuttgart. Zum Glück habe schlechtes Wetter die Durchführung verhindert. Bis zum Osterfest 1989 seien nun zwar mit Genehmigung des Generaldirektors in Bernburg eine Reihe weiterer Kollektivmaßnahmen anvisiert, die der Auftraggeber aus dem Westen auch mit Fahrzeugen absichern werde. Dafür aber nutzten die Kollegen die Ausgehmöglichkeit in der Woche wenig. „Auch am Wochenende wird selten länger als bis 21 Uhr ausgegangen.“ Kein Grund zur Beunruhigung. Die Lage in Feindesland ist unter Kontrolle.

Westauftrag mit IM-Einsatzplan

Bei der Stasi-Hauptabteilung XVIII, zuständig für die „Sicherung der Volkswirtschaft“, kann sich Oberstleutnant Wolfgang Schörnig zurücklehnen. Die unter seinem Befehl entstandene Sicherheitskonzeption samt IM-Einsatzplan bewährte sich: Fast ein Dutzend Inoffizielle Mitarbeiter hat Schörnigs Einheit in die Bautruppe geschleust, die aufgrund eines Vertrages mit der westdeutschen Firma Müller-Altvater beauftragt ist, im Stuttgarter Zentrum den „Treffpunkt Rotebühlplatz“ zu bauen. Angebahnt hatte das Geschäft die Firma Limex Bau-Export-Import, die zum Reich von DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski gehörte. Ausführen sollen den Millionenauftrag Brigaden des BMK Chemie aus Halle und Männer vom VEB Industriebau Bernburg.

Die Abwicklung ist vorbereitet worden wie die Entsendung eigener Truppen hinter die Front. Unterlagen zum „NSW-Bauexportvorhaben“, die jetzt in der Stasi-Unterlagenbehörde gefunden wurden, zeigen, wie die Staatssicherheit den Ausflug der Bauarbeiter aus dem Bezirk Halle generalstabsmäßig vorbereitet. Nichts soll dem Zufall überlassen bleiben, um den Auftrag zu erfüllen, gleichzeitig aber keine Probleme mit den 87 in den Westen abgeordneten Arbeitern zu bekommen.

Direkt nach Vertragsabschluss beginnt die sogenannte Reisestelle des BMK Chemie, geeignete Reisekader für den Einsatz in Schwaben zu suchen. Vorzugshalber greifen die Organisatoren dabei auf „erfahrene Baustellenkader“ (MfS) zurück, die eben dabei sind, zwei ähnliche Bauvorhaben in Westberlin abzuschließen. Es werde eingeschätzt, dass so „Probleme vermieden“ werden könnten, schreibt Oberstleutnant Schörnig in einer Information zum Stand der Vorbereitungen. Zudem sei man dabei, in Zusammenarbeit mit der Stasi-Kreisdienststelle in Bernburg „eine Konzeption zur politisch-operativen Sicherung des Bauexportvorhabens“ zu erarbeiten.

In den Wirren der Wendezeit gelang dem US-Geheimdienst CIA der ganz große Coup: Ein KGB-Mitarbeiter verkaufte den Männern aus Langley die sogenannte Rosenholz-Datenbank - Computerkopien von etwa 350 000 auf Mikrofilm gespeicherten Dateien der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), des Auslandsgeheimdienstes des MfS.

Allerdings handelt es sich bei den in den Listen genannten Personen nicht durchweg um West-IM der Staatssicherheit, sondern auch um Personen, die die Stasi als mögliche Mitarbeiter oder auch nur als interessante Zielpersonen ins Visier genommen hatte.

Zwölf Jahre lang hatten deutsche Behörden keinen Zugriff auf die Daten, erst 2003 gaben die Amerikaner eine - erklärtermaßen vollständige - Kopie der Datenbank nach Deutschland zurück. Nach Angaben der Jahn-Behörde enthielten die Bestände etwa tausend noch nicht entdeckte Westspitzel der Staatssicherheit. Darunter waren auch 16 ehemalige Bundestagsabgeordnete, über die das MfS vor 1972 Akten geführt hatte. 

Die DDR steht in jenem Herbst 1988 unter schwerem wirtschaftlichen Druck. Das Land gibt seit Jahren mehr aus als es einnimmt, es lebt von der Substanz und findet kaum noch Nischenprodukte, die es ins Ausland verkaufen kann, um an die lebensnotwendigen Devisen zu kommen. Bauaufträge wie der in Stuttgart kommen da gerade recht: In 14 Monaten Bauzeit werden die 87 Fachkräfte aus dem damaligen Bezirk Halle immerhin 3,5 Millionen D-Mark erwirtschaften. Da darf nichts dazwischenkommen. Auch, weil die Gewerkschaften im Schwäbischen ohnehin mit Argusaugen auf die Beschäftigung der DDR-Bauarbeiter schauen. Die Führung der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden vermutet, dass die Männer aus dem Osten schlechter bezahlt werden als einheimische Kräfte. Die West-Firma Müller-Altvater, die Generalauftragnehmer für das Prestigeobjekt Rotebühl ist, verweist darauf, dass Maurer, Betonbauer und Eisenflechter im Westen nicht zu finden seien. Zudem würden an die Kollegen aus dem Osten „die im Westen üblichen Marktpreise“ gezahlt.

Nur dass sie bei den Kollegen aus Bernburg und Halle nicht in der Lohntüte ankommen. Zuvor kassiert das Schalck-Imperium nämlich kräftig ab, dessen Einnahmen gebraucht werden, um den maroden Staatshaushalt der DDR zu retten. Dennoch bleibt es ein tolles Geschäft für alle Seiten. Während die DDR-Bauarbeiter zu ihrem DDR- Stundenlohn von rund sieben DDR-Mark bis zu zwanzig D-Mark pro Tag als Auslösung zusätzlich erhalten - umgerechnet also sagenhafte 2 000 DDR-Mark monatlich, streicht Limex 40 D-Mark je Arbeitsstunde ein. Das macht 300 D-Mark Reingewinn pro Arbeiter täglich. Der West-Auftraggeber dagegen spart bei den Sozialabgaben.

Kein Wunder, dass DDR-Bauarbeiter Ende der 80er Jahre im Westen gefragt sind. Nach der offiziellen Statistik des Statistischen Bundesamtes erbringen DDR-Firmen 1988 in der Bundesrepublik Bauleistungen im Wert von 26 Millionen Mark. Volkseigene Betriebe verantworten damit zwar nur einen Bruchteil aller Bauinvestitionen im Westen. Doch in Westberlin, wo die sozialistischen Brigaden zum Schlafen in die Hauptstadt der DDR zurückgekarrt werden können, realisieren sie immerhin elf Millionen vom Gesamtvolumen aller Bauaufträge in Höhe von zehn Milliarden Mark.

Millionen für marode Kassen

Viel Arbeit für die HV XVIII, zu deren Aufgaben die „Aufklärung“ von Auslandskadern und die Sicherung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ gehört. Auf rund 30 Baustellen in der Bundesrepublik und Westberlin sind Ende der 80er Jahre DDR-Bauarbeiter beschäftigt. Offizielle Daten über die Zahl der Fachkräfte aus dem Osten, die den Westen aufbauen, gibt es nicht, doch die IG Bau spricht damals von bis zu 2 000 Männern.

Sie alle halten den devisenträchtigen Job drüben für einen Glücksfall, werden dafür aber mit „Bau stellenordnungen“ diszipliniert, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und von Stasi-Spitzeln lückenlos überwacht.

Auch der Preis des Traumjobs in Stuttgarts Stadtmitte ist die Aufgabe von Grundrechten. Ihre Pässe müssen die DDR-Mitarbeiter bei ihrer Baustellenleitung abgeben, um sie „vor Beschädigung und Verlust zu schützen“, wie es heißt. Private Telefongespräche sind nur mit Genehmigung möglich, die angerufenen Personen werden protokolliert und der „Kontakt zu Personen, die nicht mit Dienstaufgaben in Verbindung stehen“, heißt es, „ist allen DDR-Bürgern untersagt“.

Moderne Industriesklaverei, die sich bis in den Freizeitbereich erstreckt. Wer das Wohnheim verlässt, wird notiert und hat bis 23 Uhr zurückzukehren. Besucher dürfen nicht mitgebracht werden. Neben den Leitungskräften, die die „politisch-moralische Verantwortung durchsetzen“, wachen in Stuttgart zehn IM über die Sicherheit. IM „Franz Heise“ etwa ist ein Leitungskader, der nebenher aufklären soll, welche „Zielpersonen“ in der eigenen Truppe es an Verlässlichkeit mangeln lassen. IM „Sonny“ dagegen, ein Zimmermann, ist beauftragt, im Wohnheim zu beobachten, welcher Monteur gegen das Alkoholverbot verstößt oder verbotene Kontakte zum Klassenfeind pflegt. Und IM „Heggi“ überprüft fortlaufend, ob die offiziell gemachten Angaben über Aufenthalte, Telefonate und Fahrzeugnutzung wirklich stimmen.

Getreu dem Erich-Mielke-Motto „Wir müssen alles wissen“ versucht die bunte IM-Truppe, darunter zwei eigens aus Bitterfeld und Bernburg verpflichtete Inoffizielle, ihre 77 nichtsahnenden Kollegen im Auge zu behalten, um mögliche „Zwischenfälle vorbeugend“ zu verhindern. Ob Augen und Ohren der Stasi-Spitzel in Schwaben wirklich alles mitbekamen, geht aus den noch vorhandenen Dokumenten über den letzten Westauftrag der Bauarbeiter aus Bernburg und Halle nicht hervor. Denn nur ein Jahr nach Start der Großbaustelle ist der Spuk vorüber: Die Mauer fällt, die Stasi wird aufgelöst, die Bauarbeiter aus der DDR ziehen ab. Der von ihnen gebaute „Treffpunkt Rotebühlplatz“ aber ist bis heute ein beliebtes und vielgenutztes Freizeitzentrum der Stuttgarter. Im vergangenen Jahr erst beschloss der Stadtrat eine Teilsanierung: Für 3,8 Millionen Euro soll das Kulturzentrum demnächst erneuert werden.