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30 Jahre friedliche Revolution Udo Winter Nachterstedt war bei Mutter in Westdeutschland zu Besuch, als 1089 die Mauer fiel: Freude über Reisefreiheit und volle Läden

Von Regine Lotzmann 12.10.2019, 12:56
Udo Winter hat noch wenige alte Fotos, die seine Mutter zeigen. Bei ihr war der Nachterstedter gerade zu Besuch, als die Mauer fiel. Daran kann sich der Rentner noch gut erinnern.
Udo Winter hat noch wenige alte Fotos, die seine Mutter zeigen. Bei ihr war der Nachterstedter gerade zu Besuch, als die Mauer fiel. Daran kann sich der Rentner noch gut erinnern. Frank Gehrmann

Nachterstedt - Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, saß Udo Winter schon im Westen. Und zwar ganz offiziell. Denn der Nachterstedter durfte in jenem November für einige Tage seine in Uerdingen am Rhein lebende Mutter besuchen, die gerade Geburtstag hatte.

Für den heute 72-Jährigen war das eine Besonderheit. Nur zweimal konnte er als DDR-Bürger in den Westen reisen. Sonst wurden seine Anträge immer abgelehnt. „Warum, das weiß ich nicht. Ich wäre ja nicht geblieben, ich hatte meine Familie hier.“

Als er nachts nicht schlafen konnte und den Fernseher einschaltete, liefen Berichte vom Fall der Mauer

Den Mauerfall selbst erlebte der heutige Rentner an der Mattscheibe. „Ich konnte nicht schlafen und habe leise den Fernseher angedreht“, erinnert er sich noch genau. Auch daran, dass er dachte, das stimme doch nicht, er müsse träumen.

Aber die Öffnung der Grenze lief auf allen Kanälen. „Ich habe dann schnell meine Mutter geweckt. Und beide haben wir geheult. Und sie meinte: ‚Siehste, ich habe immer gesagt, dass es die Wiedervereinigung gibt.‘“ Seine Frau, die zum Westbesuch eigentlich mit wollte, aber nicht durfte, kam trotzdem nicht hinterher. „Die Züge waren dermaßen überfüllt, da hat sie es einfach nicht geschafft.“

Was ihn am anderen Deutschland beeindruckt hat? „Die vollen Geschäfte. Alles war da. Obst. Gemüse. Dinge, die wir noch nie im Leben gesehen haben“, sagt Winter. Da habe er große Augen bekommen. Von seinem Begrüßungsgeld kaufte er sich ein Fläschchen Parfüm.

Udo Winter freut sich über Reisefreiheit und volle Läden, „aber nur, wenn man Geld dafür hat“

„Tosca. Und ein bisschen Schokolade.“ Wenn er heute sagen soll, was für ihn die deutsche Einheit ganz persönlich bedeutet, muss er überlegen. „Dass ich meine Mutter danach regelmäßig sehen konnte. Und dass die Straßen sauberer sind“, zählt er auf. Auch die Reisefreiheit sei toll und dass man kaufen könne, was es vorher nicht gab. „Aber nur, wenn man Geld dafür hat“, schiebt er traurig hinterher.

Denn genau da liege das Problem. Seine Frau Ursula und er bekämen nur die Mindestrente. „Und das, obwohl wir ein Leben lang gearbeitet haben.“ Zuerst im Konsum, dann betrieben die beiden eine Gaststätte, später eine Eisdiele. „Und in der Gastronomie haben wir nie nur acht Stunden gearbeitet, meist waren es zwölf bis 14“, sagt Winters Frau.

Das Ehepaar Winter lebt in einer kleinen Altbauwohnung, ihr Garten liefert ihnen Obst und Gemüse

Doch mit der Mindestrente sei das Geld immer knapp. Das Ehepaar lebt in einer kleinen Altbauwohnung und zieht Obst und Gemüse im eigenen Garten. Die Trockenheit der beiden letzten Jahre war für sie da eine Katastrophe.

„Nur einmal sind wir nach der Wende in den Urlaub gefahren“, erzählt der Nachterstedter weiter. Selbst Ausflüge in die nähere Umgebung seien tabu. „Ich bin in Aschersleben auf der Burg aufgewachsen“, erzählt Ursula Winter, die deshalb gern mal wieder den Zoo besuchen würde.

Aber die Fahrkarte nach Aschersleben, die Tour zur Burg - so weit könne sie nämlich nicht mehr laufen - und der Eintritt, das könnten sie sich einfach nicht leisten.

Den jahrelangen Frieden hält der 72-Jährige für etwas besonders Wertvolles

„Wenn wir jünger wären und gut verdienen würden, könnten wir das hier alles mehr genießen“, ist sich das Ehepaar sicher. Aber sie würden sich nicht beschweren. „Uns geht es besser als unseren Eltern“, findet der 72-Jährige, der nämlich auch den Frieden, in dem die Deutschen so lange schon leben, als Errungenschaft ansieht, an der auch die deutsche Einheit ihren Anteil hat. (mz)