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Autor Schmid: "Die Menschen verstehen das Leben nicht mehr"

14.09.2016, 12:49
In seinem aktuellen Buch „Das Leben verstehen” berichtet Wilhelm Schmid von Menschen im Krankenhaus und ihrem Umgang mit Krisen. Foto: Paul Zinken
In seinem aktuellen Buch „Das Leben verstehen” berichtet Wilhelm Schmid von Menschen im Krankenhaus und ihrem Umgang mit Krisen. Foto: Paul Zinken dpa

Berlin - Gegensätze und Streit gehören zu jeder Liebesbeziehung. Und auch in der Politik sollten die unterschiedlichen Positionen viel öfter hart aufeinanderprallen, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid („Gelassenheit”).

Im Interview der Deutschen Presse-Agentur kritisiert der Bestsellerautor, dass das Negative heutzutage aus vielen Lebensbereichen wegoperiert werden solle. In seinem aktuellen Buch „Das Leben verstehen” berichtet er von Menschen im Krankenhaus und ihrem Umgang mit Krisen.

Frage: Gespräche sind ein zentraler Punkt in Ihrem neuen Buch. Wie sieht es in der Gesellschaft damit aus?

Antwort: Wenn es an etwas mangelt, dann sind es gute Gespräche. Menschen haben ein unendliches Bedürfnis, von ihrem Leben zu erzählen. Und kaum ein Mensch hat die Bereitschaft, zuzuhören. Das ist das krasse Missverhältnis. Das betrifft nicht nur Verhältnisse im Krankenhaus, sondern auch im privaten Leben. Deswegen ist gute Freundschaft wichtig. Sehr gute Freunde hören sich wechselseitig zu.

Frage: Wozu brauchen wir diese guten Gespräche?

Antwort: Ein Mensch wird sich über sich selber klarer. Wenn er die Gelegenheit erhält, sein Leben zu erzählen, gewinnt er inneren Sinn. Also: Im Gespräch bemerkt ein Mensch erst, wie sein Leben zusammenhängt.

Frage: Wie steht es um Sinnfindung überhaupt - für uns alle?

Antwort: Das Verhängnis unserer Zeit ist, dass sie Sinn nicht serviert, sondern zerstört.

Frage: Wie meinen Sie das?

Antwort: Nehmen wir ein Beispiel, woraus Menschen sehr viel Sinn beziehen. Nämlich aus Beziehungen zu anderen. Aber wir leben in der Moderne, in der jede Beziehung jederzeit zerbrechen kann. Damit zerbricht jedes Mal Sinn für einen Menschen.

Frage: Nun sagen viele Leute, die sich trennen, sie hätten sich nicht mehr gut gefühlt - und würden getrennt neuen Sinn finden.

Antwort: Klar. Der der geht, gewinnt neuen Sinn. Aber es bleibt einer zurück. Und der fällt in die totale Sinnlosigkeit.

Frage: Das ist der Blick auf den Einzelnen. Und wenn man auf die Gesellschaft insgesamt blickt, sehen Sie Instanzen, die Sinn stiften?

Antwort: Nein. Genau die gibt es nicht. Das waren die Kirchen, das war die Religion. In hohem Maße. Das war Tradition. Und das war Konvention. Das waren aber Zwangsinstanzen.

Frage: Wer müsste sie heute ersetzen?

Antwort: Jeder Einzelne für sich selbst. Wenn eine Beziehung zerbricht, ist es an mir zu verstehen, wie ich Sinn wieder gewinnen kann, nämlich indem ich nach Beziehungen suche. Und mich dann vielleicht stärker darum bemühe, Beziehungen zu bewahren.

Frage: Und wie ist es mit Parteien, Politik, Verbänden, gibt es jemanden, der mir helfen kann bei der Sinnstiftung?

Antwort: Ja, ja, die heteronome, also unselbstständige Prägung ist im Menschen drin. Die Leute wollen nach wie vor serviert bekommen. Das ist der große Erfolg von Politikern wie Putin in Russland und Erdogan in der Türkei. Auch hierzulande gibt es ja etliche Verehrer. Das sind oft Menschen, die nicht die Arbeit haben wollen, dem Leben selber Sinn zu geben. Sondern die den Sinn wieder gerne serviert bekommen wollen. Gerne auch mit diktatorischen Mitteln. (Pause) Ich möchte Menschen gern befähigen, ihrem Leben selber Sinn zu geben.

Frage: In bestimmen Situationen kann man das vielleicht nicht, jemand ist zu arm, zu krank...

Antwort: Sinn finden geht! Auch unter widrigsten äußeren Bedingungen. Das erstaunliche an meinen Erfahrungen aus dem Krankenhaus ist, dass nicht ich den Menschen gesagt habe, worin sie Sinn zu finden haben. Das wäre ja ein Missverständnis von Sinngebung. Sondern dass in den Gesprächen die Menschen selber gefunden haben, was ihnen weiterhilft.

Frage: Warum kommt man denn nicht von allein drauf?

Antwort: Die Menschen verstehen das Leben nicht mehr. Viele können mit den Grundstrukturen des Lebens nicht mehr umgehen. Und diese Grundstruktur ist Polarität, Gegensätzlichkeit.

Frage: Woher kommt solches Unvermögen?

Antwort: Weil die Moderne so weit gegangen ist, sich ein Kunstleben zu bauen. Etwa zu sagen, es muss immer alles positiv sein. Du musst positiv denken, dann wird alles positiv. Und alles Negative machen wir weg, mit technischen Mitteln. Und im Krankenhaus mit Medikamenten und Operationen. Wir operieren alles Negative weg. Die Erfahrung, die alle Menschen machen, ist aber: Es hilft nichts. Das Negative bleibt. Ärger in einer Beziehung wird bekämpft. Die Wahrheit ist: Natürlich gehört Ärger zum Leben, und zur Beziehung. Weil das Leben Spannung braucht - und Spannung gibt es nur zwischen Gegensätzen.

Frage: Was heißt das in der Politik?

Antwort: Politisch haben wir Jahrzehnte hinter uns, in denen die Meinung vorherrschte, wir brauchten keine Gegensätze mehr. Alle sind für Menschlichkeit. Alle sind fürs Gute. Aber ich habe den Eindruck, darüber ist ziemlich vielen ziemlich langweilig geworden. Noch vor einem Jahr, bis zum verstärkten Auftreten der AfD, haben viele gegähnt, die jetzt nicht mehr gähnen. Jetzt sind sie aufgewacht.

Frage: Manche Reaktionen der Politik wirken doch eher hilflos.

Antwort: Die sind ziemlich hilflos, weil sie nichts anfangen können mit einer polaren Situation. Obwohl das die Grundgegebenheit der Demokratie ist. Nur in der Diktatur kann der Diktator dafür sorgen, dass die Gegensätze eliminiert werden.

Frage: Aber wenn Politiker sich zoffen, klagen viele über Dauerstreit.

Antwort: Genau, und wenn sie sich nicht streiten, heißt es Konsens-Soße. Diese Lage entsteht eben deshalb, weil viele nicht verstehen, dass es Gegensätze gibt - ob ich will oder nicht. Überall. Erst wenn ich mich darauf einstelle, kann ich besser damit umgehen. Ich denke zum Beispiel, in der Migrationspolitik muss man die Debatte gar nicht immer entschärfen. Eher auch mal verschärfen. Dann treten die Unterschiede deutlich hervor. Erst suhlt man sich eine Weile in den Unterschieden. Dann entsteht das Bedürfnis, zu gucken, wo wir zusammenkommen und Lösungen finden.

ZUR PERSON: Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid (63) schreibt viel über die Kunst des gelungenen Lebens. Sein Werk „Gelassenheit” (2014) ist ein Dauerbrenner. Schmid wurde am 26. April 1953 in Billenhausen, heute ein Stadtteil von Krumbach in Bayern, geboren. Er lebt in Berlin.

Wilhelm Schmid: Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Suhrkamp Verlag 2016, 382 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-518-42569-5 (dpa)