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LITERATURPROJEKT Auf den Spuren der Vikings - Das Geheimnis der Islandsagas

Einzigartige Texte aus dem Mittelalter werden nach Ausgaben in Englisch, Dänisch, Norwegisch und Schwedisch nun auch komplett neu ins Deutsche übertragen.

Von ANDREAS MONTAG Aktualisiert: 26.03.2024, 09:02
das Klischeebild von Island: Eisig, einsam und abgelegen.
das Klischeebild von Island: Eisig, einsam und abgelegen. Foto: Andreas Montag

Reykjavik/MZ. - Die Sagas kennt jedes Kind in Island. So war es jedenfalls und wird, wie viele der älteren Inselbewohner zuversichtlich hoffen, auch die Jungen stark sein lassen. Natürlich machen die Verlockungen der jüngsten Neuzeit keinen Bogen um die Generation Internet. Die Moderne will auch niemand verhindern auf der wilden, schönen Insel im Nordatlantik. Aber ihre Geschichte, auf die sie ebenso stolz sind wie auf ihre grandiose Landschaft und ihre starken Handballer, wollen die Isländer nicht unter Wert verkauft sehen.

Diesem Plan folgt ein ehrgeiziges, multinational aufgestelltes Projekt: Die mittelalterlichen Sagas, Islands (und des ganzen Nordens) herausragender erster Beitrag zur Weltliteratur, sollen neu übersetzt und komplett herausgegeben werden. Ein Ziel, das für die dänische, englische, norwegische und schwedische Sprache bereits erreicht ist, sogar Grußworte gekrönter Häupter zieren die jeweiligen Ausgaben.

Nun ist die deutsche Fassung in Arbeit, mehr als 20 Übersetzerinnen und Übersetzer arbeiten sich durch das Textgebirge – mit höchstem politischen Segen. Die Publikation der Sagas sei ihr äußerst wichtig, ein Herzstück gewissermaßen, sagt Islands Kulturministerin Lilja Dögg in Reykjavik. Die Politikerin hat eigens ein paar Minuten Zeit gefunden, um über die Sagas zu sprechen. Auch ihrer Kollegin Claudia Roth, der deutschen Kultur-Staatsministerin von den Bündnisgrünen, hat sie das Projekt schon vorgestellt. Die deutsche Übersetzung wird im Saga-Verlag in Reykjavik erscheinen.

Populär in Deutschland

In Deutschland sind die Sagas, die von den ersten Siedlerinnen und Siedlern auf Island berichten, die dort um 870 gelandet und sesshaft geworden sind, durchaus populär. Immer wieder sind Ausgaben mit ausgewählten Texten der Sagas erschienen. Es gibt Schnittmengen mit deutscher Überlieferung aus dem Mittelalter – und es geht darin auch schon mal zur Sache, wie man sagt, wenn gehauen und gestochen wird.

Aber die Sagas sind keine Sagen, hier ist Obacht geboten. Das Personal aus den Geschichten, die zunächst mündlich weitergetragen und vom 12. Jahrhundert an dann aufgeschrieben worden sind, ist „echt“. Mögen einzelne, legendenhafte Ausschmückungen dabei sein, was die literarische Bedeutung der Texte eher unterstreicht – die Sagas berichten von der Landnahme jener Freibauern und Rebellen, die sich zur Wikingerzeit in der Hoffnung auf neue Chancen aus Norwegen davongemacht hatten. Einfach mal im Holzboot über den Atlantik segeln – für Wikinger eine der leichtesten Übungen offenbar. Wie sie navigiert haben werden, um ihr jeweiliges Ziel auch zu erreichen, kann man sich im Landnahmezentrum in Borgarnes anschaulich erklären lassen.

Und warum wollten die Leute fort aus Norwegen? Dort begann das Land allmählich knapp zu werden, zudem wurde die Zentralgewalt des Königs gerade installiert. Wem seine Freiheit lieber war, der fuhr mit Zwischenstopp auf schottischen Inseln oder in Irland nach Island weiter, das reich an fruchtbarem Boden, Wasser, Fischen und Vögeln war. Und mit den keltischen Einflüssen, die heute auf 40 bis zu 70 Prozent des isländischen Genpools beziffert werden, kamen Bildung, Schrift und offenbar auch die Poesie nach Island. Davon spricht auch der renommierte Gísli Sigurðsson, der an der Universität Reykjavik forscht und lehrt.

Òskar Gudmundsson erläutert die Bedeutung der Sagas.
Òskar Gudmundsson erläutert die Bedeutung der Sagas.
Andreas Montag

Diese Herleitung könnte erklären, dass es ausgerechnet die Isländer sind, die im Norden mit literarischen Gewichten wie denen des Autors und Machtpolitikers Snorri Sturluson (1179-1241) auftrumpfen, den Óskar Gudmundsson in seiner gerade bei Böhlau auf Deutsch erschienenen, ausführlichen Biografie den „Homer des Nordens“ nennt.

Gudmundsson, der wie sein Held Snorri auch in Reykholt wohnt, ist wie Gísli Sigurðsson, der Forscher aus Reykjavik, einer, der nicht nur alles über die Sagas weiß, sondern mit ihnen lebt. Und wenn man mit Óskar eine wunderbare Meeresfrüchte-Suppe gegessen hat, Wintersuppe, wie er sagt, stapft der Autor schließlich zu „seinem“ Museum nebenan, in dem er das Lebenswerk und den gewaltsamen Tod von Snorri Sturluson, dem Chronisten des nordischen Mittelalters, umfassend dargestellt hat.

Die Geschichten dieser rauen, machtbewussten Siedler, die notwendigerweise bereit waren, sich ihrer Haut zu wehren, taugt nicht für „nordische“ Fantasien von Rechtsaußen, wie die in Island lebende deutsche Wissenschaftlerin Anita Sauckel für alle Fälle warnt: „Die Sagas erzählen Lebensgeschichten, das ist kein Stoff für Ideologen.“ Zuletzt sei eine solche interessengeleitete Aufmerksamkeit aber im Abklingen. Sauckel ist Mitherausgeberin der geplanten Saga-Neuübersetzung, die in Reykjavik verlegt und von dort in den deutschen Buchhandel vertrieben werden soll. Ein ambitioniertes Projekt. Aber mit Ehrgeiz kennen die Isländer sich aus: So hat die Landnahme von Egill, einem der Sagahelden, und seinen Leuten begonnen. Mit Härte allerdings auch.

Stein ins Kreuz

So soll Egills vor Wut schäumender Vater eine Frau namens Brak, eine Vertraute seines Sohnes, zur Flucht ins Wasser getrieben und der Frau einen tödlichen Stein ins Kreuz geworfen haben.

Gudvardur Már Gunnlaugsson mit einem alten Buch.
Gudvardur Már Gunnlaugsson mit einem alten Buch.
Foto: Andreas Montag

Die Kostbarkeiten, auf denen alles fußt, sind die auf Rinderhäute geschriebenen Texte. Viele sind verloren gegangen, viele in der Welt verstreut – in Bibliotheken von Kopenhagen über London bis nach Wolfenbüttel. Die Dänen haben einige der Schätze herausgerückt und an ihre ehemaligen Landeskinder übergeben. Erst 1944 wurde das im Mittelalter herrschaftsfreie, dann norwegisch, schließlich dänisch beherrschte Land eine unabhängige Republik. Die Handschriften der Sagas aber werden in der Universitätsbibliothek von Reykjavik gehütet wie Edelsteine.

Weitere Informationen: Óskar Gudmundsson: „Snorri Sturluson. Homer des Nordens“, Böhlau, 447 S., 35 Euro