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Buchmesse Buchmesse: Alle Farben der Sonne und der Nacht

Von Sigrid Neef 21.03.2003, 15:58

Leipzig/MZ. - Doch mit den stalinistischen Säuberungen konnten die zurückgekehrten Emigranten nicht rechnen. Die Aufarbeitung dieser Erlebnisse schildert die große alte Dame der deutsch-tschechischen Literatur in ihrem jüngsten Buch "Alle Farben der Sonne und der Nacht", das sie am Donnerstag in Leipzig vorstellte.

Sie ist wohl die letzte tschechische deutsch schreibende Literatin, die letzte aus einem einstmals legendären Kreis. Unwillkürlich richtet man sich im Stuhl auf, wenn die 87-jährige ihre Simme erhebt. Doch nicht nur der weiche tiefe Klang setzt ein inneres Achtungszeichen. Es sind Reichtum und Klarheit einer Sprache, die liebevolle zwischenmenschliche Alltäglichkeiten ebenso wie großes Grauen zu klassischer Größe formt. Ihre warmherzige Aufrichtigkeit rundet sie mit einer Nuance feinsten, blitzhellen Spottes ab. So entsteht die Kunst der Überschneidungen: aus der tiefsten Schwärze schält sie die Lichtblicke eines Augenblicks heraus. Lange ist ihr Leben geprägt von Gefahr und Flucht. Der Auslöschung von Freunden und Familie durch den Holocaust folgten die stalinistischen Repressalien, und schließlich bescherte der Prager Frühling 1968 Lenka Reinerová wiederum den Verlust ihrer Arbeit und Schreibverbot.

Ihre Überlebenskraft hat sie nie verloren. Ebenso wollte sie Prag nicht verlassen, zu stark sind die Wurzeln. Der Moderator des Abends, der Autor Steffen Mensching, hat "Alle Farben der Sonne und der Nacht" "mit Betroffenheit gelesen, aber nicht deprimiert verlassen". Er hätte es gern 15 Jahre eher lesen wollen - ein Gefühl, das das Publikum mit ihm teilt. Die Schriftstellerin, die sich lieber Erzählerin nennt, steht den Idealen ihrer Jugend mit einer ruhigen Altersweisheit gegenüber. Jedoch wehrt sie sich gegen pauschale Aburteilungen des Sozialismus, den es, wie von ihr und anderen gewollt "so nie gegeben hat". Wichtig ist ihr bedingungslose Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und Beurteilung aus dem Blickwinkel der damaligen historischen Situation.

Im letzten Jahr wurde die Pragerin die Ehrenbürgerin ihrer Stadt: für die gegenseitige Bereicherung der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur. Lenka Reinerová erhält morgen gemeinsam mit Jorge Semprun in Weimar die Goethe-Medaille. Sie wünscht sich sehr, dass Joschka Fischer wie geplant die Festrede halten kann. Vermutlich wird er diesen Termin nicht wahrnehmen können.

Lenka Reinerová: "Alle Farben der Sonne und der Nacht", Aufbau, 200 S., 15 Euro.