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Campen statt Kampen Im Regio nach Sylt - mit Punks und WLAN

Ist Sylt wirklich massentauglich? Gut gelaunte Punker in der Regionalbahn sagen: „Ja.“ Mit 9-Euro-Ticket, Zelt und Thermo-Leggings im Gepäck macht nicht nur die Insel große Freude.

Von Marie von der Tann, dpa Aktualisiert: 03.06.2022, 14:17
Los geht's: Die Autorin bei der Abfahrt in Berlin.
Los geht's: Die Autorin bei der Abfahrt in Berlin. Bernd Diekjobst/dpa-tmn

Westerland - Unter praktischen Gesichtspunkten können wir es kurz machen: Es hat ein bisschen gedauert (7,5 Stunden). Es wurde sehr viel umgestiegen (5 Mal). Das Gepäck (Zelt und Schlafsack) hat genervt. Aber irgendwann ist man in Westerland, sitzt mit einem Bier am Meer und genießt die raue Nordsee.

Dafür, könnte man jetzt sagen, ist die lange Zugfahrt und das viele Umsteigen eine hinnehmbare Bürde, wenn Hin- und Rückfahrt nur 9 Euro kosten.

Jetzt aber die gute Nachricht: Die Fahrt ist keine Fahrt, sie ist ein Abenteuer. Und nein, jetzt folgt kein Text über Bahnverspätungen, denn es gab keine. Es ist auch keiner über volle Züge, ausfallende Züge oder genervte Pendler. Dies war ebenfalls nicht der Fall. Die Umsteigezeiten waren angenehm. Und ob Sie es glauben oder nicht: Sogar das WLAN war (zeitweise) fantastisch.

Die Reise beginnt wenig spektakulär am Donnerstag vor Pfingsten (2. Juni) am Berliner Hauptbahnhof: Ein paar genervte Pendler und frühe Wochenendausflügler nehmen sich im RE 4 der Ostdeutschen Eisenbahn (ODEG) gegenseitig die Plätze weg. Es gibt aber genug davon, und auf dem Weg nach Rathenow wird es immer leerer. Zu sehen gibt es, ja nun, Brandenburg eben. Große, weite Felder, es ist schön.

Hans, der wohl kleinste Zug der Welt

In Rathenow wartet die erste Sehenswürdigkeit: der wohl kleinste Zug der Welt (zwei Türen, 60 Sitzplätze, ein Erste-Klasse-Bereich) namens Hans (Hanseatische Eisenbahn), nicht größer als ein Bus. Das Gefährt ist außen wie innen niedlich, was auch seine beachtliche Zahl an Fans erklärt - es gibt mehrere Strecken-Videos auf Youtube.

Ein Kind nebenan stellt seinen Eltern die einzig wichtige Frage: Macht der nun „Tut Tut“ oder nicht? (Eltern ratlos.) Der Hans schleicht über die Schienen durch Sachsen-Anhalt und gibt mit seiner Streckenführung einen kleinen Überblick über verfallene Bahnhöfe und die prächtige Landschaft in Sachsen-Anhalt. Hans endet in Stendal. Hier ist, man kann es nicht anders sagen: überhaupt nichts los.

Von Stendal geht es weiter nach Uelzen. Hier ist der bunte Hundertwasser-Bahnhof die Attraktion. Bunte Kacheln, runde Formen, kleine Grotten, das kommt unerwartet. 15 Minuten später düst der Metronom nach Hamburg (Service-Hinweis: viele Steckdosen, fantastisches WLAN).

Freude auf den „Schienensommer“

Das 9-Euro-Ticket ist im Zug Thema: Zwei junge Mütter planen eine Fahrt nach Berlin zu einem großen Klamotten-Discounter, und Düsseldorf wäre ja vielleicht auch noch drin. „Das wird ein Schienensommer“, freuen sie sich und steigen, so wie wir, in Hamburg aus.

In Hamburg wartet der nächste Zug nach Elmshorn. Ich erspare Ihnen Details, denn es gibt wirklich nichts zu berichten. Bisher war es verdächtig ruhig, von Pfingstreisetrubel keine Spur. Ist das auch der Eindruck des Schaffners? Ja, erzählt er, einige Züge sind voll. Vor allem die, die günstig zu Fährabfahrten in Kiel ankommen, aber man habe es sich alles schlimmer vorgestellt. Aber gut, es ist ja auch erst Donnerstag.

Auf dem Bahnsteig in Elmshorn kommt das erste Mal Urlaubsfeeling auf. Sylt-Ultras geben sich mit Merchandise-Jutebeuteln und E-Fahrrädern zu erkennen. Die Perlenketten-Dichte steigt, die Laune ist gut. Im Zug wird sie noch besser. Denn dort lässt eine Punker-Reisegruppe aus Dortmund bereits ihren Urlaubsgefühlen freien Lauf. Sie haben einen Kasten Bier dabei und eine Bluetooth-Box - mehr braucht es für eine spontane Party ja auch nicht.

Punks performen - und sind uneinig

Laut singen sie im Chor „Chaostage 2022“ oder „Sylt wir kommen - jetzt wird genommen“. Die Fahrgäste (kein einziger beschwert sich) blicken auf sie wie auf eine moderne Performance-Kunst-Darbietung und sind durchaus angetan. Auch als zwei an mehreren E-Fahrrädern vorbei „erst mal zum Rauchen auf die Toilette“ verschwinden. Der nächste WC-Besucher sagt verstört zur Schaffnerin: „Ich glaube, sie haben wirklich geraucht.“ Der reicht es jetzt.

Es werde nicht geraucht, erklärt sie, die Maske sollen sie nun bitte korrekt tragen und sich benehmen. Einem der Punks gefällt die Umgangsform nicht, er beschwert sich bei der Schaffnerin über das Geduze. Sein „Verpiss dich“ verhärtet allerdings die Fronten.

Die Gruppe ist sich aus verschiedenen Gründen uneinig - benehmen, jetzt echt, oder nicht? Peter ist dafür. Er habe ohnehin nicht nach Sylt gewollt, erzählt er. Mit 40 zu alt für die Scheiße mit dem Krawall machen und für den Hund seien Chaostage auch nicht optimal. 16 000 Punks kommen, habe er gelesen. Warum nicht einfach Rügen? Er krault nachdenklich seinen Hund murmelt ihm dann fast entschuldigend zu: „Es geht ans Meer, meine Kleine. Ans Meer.“ Immerhin.

Die Polizei steigt ein - und wieder aus

Die Schaffnerin, immer noch schwer genervt, lässt sich über das 9-Euro-Ticket aus. Es sei ihr persönliches Unwort des Jahres und nichts anderes als ein Alptraum. Alles Mögliche gelte als 9-Euro-Ticket, „da brauchst gar nicht erst durchgehen“.

Dann muss sie weg: Die Punks waren wieder rauchen. Jetzt soll die Bundespolizei kommen. Die kommt tatsächlich und stellt sachlich fest, dass es sich um einen Personenkreis von acht Fahrgästen handelt. Sie spricht sich dafür aus, es bei einer Ermahnung zu belassen.

Aus dem Personenkreis wird gefragt: „Wo ist eigentlich meine Perle?“ Ein Polizist gibt höflich Auskunft: Er glaube, auf der Toilette. Der Zug fährt weiter, „der Personenkreis“ winkt der Polizei zur Abfahrt freundlich zu und schießt ein Erinnerungsfoto.

Camping-Profis mit Wäschespinne

Wir kommen in Westerland an. Die Luft riecht salzig und es ist grau, frisch und windig. Das Zelt ist schnell aufgebaut, der Campingplatz in Rantum zeigt alles, was das Campingherz begehrt: Profis haben neben einem riesigen Wohnmobil nicht nur Blumen für den Frühstückstisch, sondern auch eine Wäschespinne und einen mobilen Hundeauslauf dabei. Und natürlich E-Fahrräder. Klar. Der Vorgarten ist mit Solarlichtern abgesteckt.

Nach dem obligatorischen Bier am Strand geht es durch die Fußgängerzone zum Essen. Verkaufsschlager sind offenbar Mützen (auch im Juni) und jede Art von Sylt-Merchandise. Jeder Laden trägt ein „Sylt“ im Namen. Als vergesse man so schnell, wo man ist?

Vor einem Supermarkt haben unsere Reisefreunde aus dem Zug ihre Party wieder aufgenommen. Gestern seien schon 30 von ihnen da gewesen erzählt der Kellner zerknirscht. Die Punks in Sylt, ein ungewohnter Anblick. Die Freude darüber: mäßig.

Punks bleiben über Pfingsten - mindestens

Zurück auf dem Campingplatz ist es gemütlich, aber etwas frisch im Zelt (zwölf Grad in der Nacht). Vorteil: Selbst den Mücken ist es offenbar zu kalt und zu windig hier. Mit Thermo-Leggings und dickem Schlafsack ist es in der Nacht trotzdem kein bisschen frostig. Am nächsten Morgen hoppeln Kaninchen über die Zeltwiese und Vögel zwitschern. Traumhaft.

Zurück geht es freitags - natürlich - wieder mit der Regionalbahn über Elmshorn, Hamburg, Uelzen, Stendal und Rathenow nach Berlin. Diesmal ist es ruhig. Die Punks bleiben mindestens über Pfingsten. Vielleicht aber sogar drei Monate. Sie wissen es noch nicht genau.