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Hochwasser-Helfer Hochwasser-Helfer: Generation Gummistiefel

Von Steffen Könau 06.06.2013, 18:12
Am Mittwochnachmittag arbeiten immer noch hunderte auf dem Marktplatz in Halle und befüllen Sandsäcke.
Am Mittwochnachmittag arbeiten immer noch hunderte auf dem Marktplatz in Halle und befüllen Sandsäcke. Silvio Kison Lizenz

Halle/MZ - Es ist halb zwei Uhr morgens, als die letzte Linie fällt. Der Sprit für die Pumpen ist aus, das Wasser am Robert-Franz-Ring in Halle steigt seit zwei Stunden schneller als die Helfer Säcke heranschleppen können. Alle sind nass, verschwitzt, müde. Die Männer von der Feuerwehr aus Sangerhausen sagen danke. Frank Schnoor, der die letzten acht Stunden an vier Stellen in der Stadt Sandsäcke gefüllt und gestapelt hat, sagt danke zurück. „War klasse mit Euch, Leute.“ Noch ein paar Minuten stehen sie alle am Verpflegungstisch, die hier gekämpft haben, aufopferungsvoll, aber vergeblich: Franka, die bei der Bundeswehr ist und Urlaub hat. Sie war noch nicht mal zu Hause, sondern ist gleich vom Bahnhof an die Wasserfront geeilt. Drei Schülerinnen sind da und ein paar Studenten. Ein Angestellter, dem die Gummistiefel vollgelaufen sind. Einige Lehrlinge, vier freiwillige Feuerwehrleute aus Nordhausen und Rico, Sven und Stefan, die aus Chemnitz gekommen sind, weil „wir irgendwas machen wollten, aber in Grimma haben sie uns nicht reingelassen“, wie Rico sagt. „Morgen geht’s weiter“, verabschiedet sich eins der Mädchen, durchgeweichte Schuhe in der Hand.

Weiter geht es ja schon seit Sonntagabend, als der erste Hilferuf durch die sozialen Netzwerke rauschte. Am Gimritzer Damm, den die Fluten der Saale zu überspülen drohten, fanden sich binnen kurzer Zeit mehr als hundert Menschen ein, um zuzupacken. Junge und noch jüngere waren es zumeist. Nicht nur Jungen, sondern auffallend viele Mädchen standen in den langen Reihen, durch die tausende Sandsäcke zu den bedrohten Schwachstellen wanderten. Seitdem ist das Helfen an der beständig vorrückenden Hochwasserlinie zu einer Massenbewegung geworden. Wo Sonntag noch hundert Helferinnen und Helfer standen, waren es am Montag schon mehr als tausend. Am Dienstag schließlich überrollte die Welle der Hilfsbereitschaft die Organisatoren von der Stadt. An den Sandsack-Füllstationen drängten sich Tausende, auf der Suche nach Brennpunkten, an denen noch zupackende Hände gesucht wurden, pilgerte ein schier endloser Zug aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Straßen.

Es ist die Generation Gummistiefel, die der Stadt an der Saale in den Augenblicken der höchsten Not ihren Stempel aufdrückt. Stundenlang schippen sie, stehen im eiskalten Wasser und wuchten Sandsack um Sandsack auf durchgeweichte Dämme.

Chucks, diese seltsamen dünnen amerikanischen Turnschuhe aus Stoff und Plastik, die sie alle tragen, sind die neuen Gummistiefel. „Man wird ja sowieso irgendwann nass, warum also nicht gleich“, grinst Saskia, die am Gimritzer Damm von Anfang an dabei war. Nein, sie wohnt nicht hier, sie wohnt nicht einmal in der Nähe und außerdem im dritten Stock. „Aber das ist jetzt nicht wichtig“, findet sie. Wichtig ist ihr wie ihnen allen das Tun, das Dabeisein, das zusammen etwas machen. „Die Stadt retten klingt zwar eigentlich blöd“, glaubt Frank Schnoor, der aus Bernburg stammt, „aber man kann ja nicht rumstehen und einfach zugucken, wie alles absäuft.“ Also kämpfen sie, barfuß oder in Flipflops, manchmal die Hände immer rot von den Jutesäcken voll Sand und meist ohne genau zu wissen, worum es gerade geht. Die Schlachtpläne werden anderswo gemacht. Hier vorn, wo das Wasser strudelt, geht es nur darum, zu erledigen, was angewiesen wird.

Es gibt keinen Streit, keine Diskussionen, kein böses, ja nicht einmal ein lautes Wort. Die natürliche Autorität von Uniformen ist allgemein akzeptiert, die Stimmung irgendwo zwischen Ernteeinsatz, Klassenfahrt und Fußball-Endspiel. Es wird gescherzt, die Leute helfen einander. „Achtung, hier kommt ein echt schwerer Sack“, geht es dann durch die Reihen. oder eben „Achtung, Erholung!“ Verstummt das Dröhnen der Pumpen für einen Moment, wird es zuweilen so still, dass das Plätschern und Rauschen der unablässig anschwellenden Saale zu hören ist.

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Wer sie sieht, ist beeindruckt. Sie sind so viele, so bunt und so fleißig. „Dieses Ausmaß an Einsatzbereitschaft hat uns alle überwältigt“, sagt Bernd Wiegand. Halles Oberbürgermeister ist begeistert von dem, was die Generation Gummistiefel leistet; unbezahlt, unaufgefordert, selbst organisiert. Auch der Rest der Stadt steht staunend: Ist das wirklich noch diese Jugend, der wir so wenig zugetraut haben?

Es sind zumindest dieselben Mädchen und Jungen, die in die dunkelsten Stunden der Stadt eine Stimmung zaubern, „dass man auf einmal sicher ist, alles wird wieder gut“, wie Heide Seekt sagt. Die 74-Jährige ist wie viele ältere Leute auf den Markt gucken gekommen, und am Tag nach der Niederlage am Robert-Franz-Ring plötzlich zwischen einige tausend junge Leute geraten, die Sand in Säcke füllen und einen nicht endenwollenden Strom an Autos beladen. Die Schlangen, die die Autos vollpacken, arbeiten konzentriert und selbstorganisiert. Geschäftsleute bringen Essen, private Spender Getränke. Eine ältere Frau hat sogar einen Kuchen dabei. Über der Szenerie hängt das Geräusch von hundert Schippen und ein Gemurmel, das klingt wie leises Lachen.

Dabei hat sich die Lage am Gimritzer Damm gerade noch einmal verschärft. Die direkt an der Schlüsselstellung lebenden Bewohner der Neustadt sind aufgefordert worden, ihre Wohnungen möglichst zu verlassen. Aber ob der Kampf gegen das Wasser in diesen Junitagen in Halle nun gewonnen oder verloren wird, ist mittlerweile vielleicht gar nicht mehr die wichtigste Frage. Viel wichtiger ist, dass die Stadt, deren Einwohner traditionell oft wenig von sich selbst und noch weniger von ihren Nachbarn halten, in den Momenten der größten Verletzlichkeit einen neuen Begriff von der eigenen Stärke bekommen hat. Das Wasser wird eines Tages wieder fort sein. Die Generation Gummistiefel, die wird im Gedächtnis bleiben.