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Behinderte als Opfer Behinderte als Opfer: Sexuelle Gewalt bleibt in Pflegeeinrichtungen oft unerkannt

29.08.2017, 05:00
Das sind zwei der Puppen, die die Sexualwissenschaftler zur sexuellen Bildung behinderter Menschen einsetzen wollen.
Das sind zwei der Puppen, die die Sexualwissenschaftler zur sexuellen Bildung behinderter Menschen einsetzen wollen. Peter Wölk

Merseburg - Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung ist häufig ein Tabuthema für Eltern und Betreuer in Heimen. Für die Betroffenen hat dies teils schlimme Folgen. Die Sexualforscher der Hochschule Merseburg haben deshalb gemeinsam mit sieben europäischen Partnern im Forschungsprojekt „Trase“ ein Konzept für die Weiterbildung von Eltern und Betreuern sowie Aufklärungsmaterialien entwickelt. Im Interview mit Robert Briest erklärt der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß, warum dies wichtig ist.

Warum ist Sexualaufklärung für Menschen mit geistiger Behinderung wichtig?
Voß: Es gibt eine UN-Behindertenrechtskonvention und eine EU-Verordnung, die das fordern. Deshalb sind Bund und Land in der Pflicht, solche Bildungsangebote und die Prävention vor sexueller Gewalt umzusetzen. Menschen mit Behinderung sind deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen, als die Gesamtbevölkerung. Frauen mit Lernschwierigkeiten etwa zwei- bis dreimal so oft wie andere Frauen.

Woran liegt das?
Voß: Das hat mehrere Gründe: Zum einen geht es um Kommunikation. Wer zum Beispiel auf Bildsprache angewiesen ist und nicht wie gesellschaftlich gewohnt kommuniziert – wie bekommt er Hilfe? Es gibt auch Personen mit geistiger Behinderung, die von frühauf mit Grenzüberschreitungen konfrontiert sind. Beispielsweise, dass sie in Einrichtungen zum Waschen auch dann angefasst werden, obwohl sie es gerade nicht wollen. Eigentlich ist es ein Grenzübergriff, der aber durch die strukturellen Bedingungen verursacht ist. Die institutionellen Bedingungen sind nicht auf den individuellen Bedarf eingestellt.

Nehmen die Betroffenen diese Übergriffe wahr? Leiden sie darunter?
Voß: Es gibt zwei Möglichkeiten: Ja. Sie nehmen es wahr. Aber es kommt auch zu Vergewaltigungen, die nicht erkannt werden, weil das Opfer es nicht artikulieren kann oder weil es von der Pflegeperson so abhängig ist. Es kann aber auch sein, dass die Betroffenen einen Übergriff nicht als solchen wahrnehmen, weil sie schon immer angefasst wurden, auch an intimen Stellen, auch wenn sie es nicht wollten. Man muss aber auch auf die Perspektive der Mitarbeiter sehen. Wie sollen sie reagieren, wenn eine Person, der sie die Windeln wechseln, immer masturbiert? Deshalb muss Sexualität Thema in der Aus- und auch bei der Weiterbildung sein. Doch dafür gibt es bisher zu wenig Angebote.

Unterscheidet sich die Sexualität geistig behinderter und nicht behinderten Menschen?
Voß: Es gibt genauso Unterschiede wie es sie zwischen allen Menschen gibt. Man braucht spezifische Angebote, die das Lernen zum Beispiel von Sozialnormen möglich machen. Wo ist es okay, nackt zu sein? Da braucht man andere pädagogische Methoden als bei Menschen ohne geistige Behinderung.

Welche?
Voß: Darauf zielen die Materialien, die wir im Projekt entwickelt haben, zum Beispiel die Körperpuppen. Die kann man einsetzen, um den eigenen Körper kennenzulernen, um zu lernen, was Genitalien sind und welche Begriffe es für sie gibt. Wo kann ich jemanden anfassen? Wo nicht? Mit anderen Materialien, wie Kartenspielen, kann man in Gruppen arbeiten, zu Verhütung, zu Beziehungen. In einer Gruppe kann man so über Körper, Beziehung und Sexualität kommunizieren. Dadurch entwickelt man auch die Begriffe. Und wenn man Begriffe für Genitalien hat, ist man besser geschützt vor Übergriffen. Dann kann ich ausdrücken, wenn ich etwas nicht möchte.

Sind sich Betreuer und Eltern der Sexualität ihrer Schützlinge bewusst?
Voß: In zunehmendem Maße. Allerdings haben wir in Betreuungseinrichtungen das Problem, dass Sexualität noch kaum ein Thema ist, das gilt für Behinderten- ebenso wie für Altenpflege. Es gibt da kaum Angebote im Bereich. Insgesamt besteht da erheblicher Nachholbedarf. Die Frage ist ja: Wie kann man den Bewohnern bei allen institutionellen Zwängen durch Personalknappheit und geteilte Zimmer eine Intimsphäre ermöglichen? Einen Rückzugsraum, eine Möglichkeit, dass die Klienten dem Personal deutlich machen können, ich will jetzt Sex haben mit meinem Partner und dafür allein sein. Anderseits geht es auch darum, wie Grenzen und Intimsphäre der Mitarbeiter beachtet werden können.

Was ist denn das Wichtigste, was Eltern und Betreuer beachten sollten?
Voß: Dass die Kinder eben eine Sexualität haben. Dass es nicht nur um den alten Schlagsatz „sauber, satt und trocken“ geht, sondern auch darum, dass die Kinder nicht nur Gefühle haben, sondern auch eine Sexualität. Da Eltern oft selber erst lernen müssen, über Sexualität zu sprechen, kann es schwierig sein, sich zu öffnen. Auch darauf zielt der Kurs den wir im Projekt entwickelt haben.

Also die Schamgrenze der Eltern zu verschieben?
Voß: Ja, einfach eine vernünftige Schamgrenze zu haben, um über Sexualität sprechen zu können. Das Kind, das oft auch im Erwachsenenalter bei den Eltern lebt, möchte ja vielleicht auch eine Beziehung haben. Für Eltern mit Kindern mit Behinderung ist es anders, weil Fragen, die sonst Jugendliche untereinander klären, so zu den Eltern kommen.

Ihr Ausbildungskonzept soll dabei helfen ...
Voß: ... und die Materialien. Kurs und Materialien sind ohne Copyright. Sie können kostenlos genutzt und weiterentwickelt werden. Es soll möglichst ein Fortsetzungsprojekt geben. Da stehen wir derzeit auf der Warteliste für die Fördermittel der EU.

››Nähere Infos zum Trase-Projekt unter: traseproject.com(mz)