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Knapp 100 Menschen gestorben Unglück in Langenweddingen 1967: Ein Überlebender berichtet vom größen DDR-Bahnunglück

Von Simon Ribnitzky 30.06.2017, 08:48
Das Archivbild vom 6. Juli 1967 zeigt Bergungsarbeiten am Bahnhof in Langenweddingen bei Magdeburg.
Das Archivbild vom 6. Juli 1967 zeigt Bergungsarbeiten am Bahnhof in Langenweddingen bei Magdeburg. ADN

Langenweddingen - 50 Jahre hat es gedauert, bis Hans-Günter Bodewell an den Ort der Katastrophe zurückkommt. Nachdenklich blickt der 67-Jährige den grasbewachsenen Bahnsteig entlang. „Hier muss es gewesen sein“, sagt Bodewell, an diesem Sommertag mit weißer Hose, hellem Hemd und Strohhut bekleidet. Hier auf den letzten Metern des Bahnsteigs in Langenweddingen bei Magdeburg landet der 17-jährige Bodewell am 6. Juli 1967 nach seinem Sprung aus dem bereits brennenden Zug. „Mein Leben war mir so wichtig, dass ich nicht mal wusste, wohin ich springe - Hauptsache raus.“

Bahnunglück am 6. Juli 1967: 94 Menschen sterben in einem Feuerinferno

Ein Tanklaster hat den Zug gerammt. 94 Menschen sterben in einem Feuerinferno, darunter viele Kinder. Es ist das größte Zugunglück der DDR, eine der schlimmsten Katastrophen der deutschen Eisenbahngeschichte. Bodewell überlebt, weil er schnell reagiert und sofort handelt.

Es sollte ein herrlicher Tag werden, jener 6. Juli 1967. Die Sonne strahlt vom makellos blauen Himmel, im Land herrscht Ferienstimmung. Gegen 8.00 Uhr macht sich der Personenzug P 852 vom Magdeburger Hauptbahnhof auf den Weg in den Harz, die Doppelstockwagen sind mit rund 500 Reisenden voll besetzt, hunderte lärmender Kinder freuen sich auf ausgelassene Tage im Ferienlager. Mit relativ hoher Geschwindigkeit braust der Zug auf den Bahnhof Langenweddingen zu, ein Halt ist hier nicht geplant. Zur gleichen Zeit steht ein Tanklaster am Bahnübergang direkt neben dem Bahnhof. Eine der vier Halbschranken lässt sich nicht richtig schließen, und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

15.000 Liter Leichtbenzin entzünden sich und verwandeln mehrere Waggons in ein Feuermeer

Die Schranke, so rekonstruieren es die Ermittler später, verfängt sich in einem Telefonkabel, das schon länger quer über dem Bahnübergang hängt und sich wegen der Hitze verformt hat. Als der Schrankenwärter die Schranken nochmals hochzieht, um das Kabel zu lösen, setzt der Lasterfahrer seinen Tankwagen in dem Glauben in Bewegung, der Übergang sei freigegeben. Die Lok des Zuges, der trotz der Probleme am Übergang kein Stopp-Signal erhält, kracht in den Laster. 15.000 Liter Leichtbenzin entzünden sich und verwandeln mehrere Waggons und angrenzende Gebäude in ein Feuermeer.

Der Zug kommt im Bahnhof zum Stehen, aus den brennenden Waggons dringt das verzweifelte Schreien der Menschen, von denen es vielen nicht gelingt, sich ins Freie zu retten. Auch der Lasterfahrer stirbt. Der Schrankenwärter und der damalige Bahnhofsvorsteher werden später zu Haftstrafen von je fünf Jahren verurteilt.

Hans-Günter Bodewell: „Raus hier, so schnell wie möglich“

Hans-Günter Bodewell reagiert sofort. „Raus hier, so schnell wie möglich“, beschreibt er 50 Jahre später seine Gedanken. „Da denkt man überhaupt nicht nach.“ Viele andere bewegen sich nicht. „Die waren geschockt. Heute verstehe ich das, damals fand ich es unverständlich.“

Bodewell, bereits draußen auf dem Bahnsteig, hört die verzweifelten Schreie der Menschen im Zug. „Die Tür zum ersten Waggon stand ein Stückchen offen“, erinnert er sich. Der 17-jährige Schüler rennt hin, reißt die Tür auf, Hitze schlägt ihm entgegen, fast 1000 Grad. Es gelingt ihm, eine Mutter und ihr Kleinkind ins Freie zu ziehen. „Das Kind stand voll in Flammen.“ Bodewell reißt sich das Hemd vom Leib, wickelt das Kind damit ein und erstickt so die Flammen.

Für seinen Einsatz bekommt Bodewell später die Lebensrettungsmedaille der DDR. Überreicht wird sie bei einem Festbankett für die Helfer. „Das empfand ich damals als ganz schlimm“, erzählt er. „Da haben sich Leute feiern lassen, die mit der Rettungsaktion gar nichts zu tun hatten.“ Auch diese Erfahrung ist ein Grund, warum der Musiker nach dem Unglück möglichst wenig mit der Sache zu tun haben will. Und dennoch zeigt die Katastrophe auch bei ihm Folgen. „Ich bin mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr Zug gefahren.“

Heute sind die Fenster des einstöckigen Bahnhofsgebäudes mit Brettern vernagelt und mit Graffiti beschmiert. Die Dachrinne rostet vor sich hin, aus dem Schornstein wächst ein kleiner Baum. Nur noch alle zwei Stunden hält ein Zug auf dem Weg nach Magdeburg oder von dort in Richtung Harz. Auf dem Bahnsteig erinnert nichts an das Unglück, das sich hier abgespielt hat. Vorne am Bahnübergang ist vor ein paar Jahren ein Gedenkstein aufgestellt worden. „Da hätte ich mir schon ein bisschen mehr gewünscht“, sagt Bodewell. „Nicht mal den genauen Tag, nur die Jahreszahl haben sie draufgeschrieben.“ Bodewell wird jener 6. Juli für immer im Gedächtnis bleiben. (dpa)