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Konzernbosse ließen ihn hängen Helmut Kohl wollte die ostdeutsche Wirtschaft zum blühen bringen

Von Steffen Höhne 24.06.2017, 10:00
Im Mai 1991 besuchte Helmut Kohl das Buna-Werk in Schkopau. Bei seiner Werksrundfahrt machte er auch einen kurzen Zwischenstopp in der Kautschukfabrik.
Im Mai 1991 besuchte Helmut Kohl das Buna-Werk in Schkopau. Bei seiner Werksrundfahrt machte er auch einen kurzen Zwischenstopp in der Kautschukfabrik. Wolfgang Scholtyseck

Halle (Saale) - Das Klubhaus der Buna-Werke in Schkopau ist fast aus allen Nähten geplatzt. Nicht nur auf den 748 Plätzen im Theatersaal saßen die Arbeiter. Die Mitarbeiter des Chemie-Kombinats saßen und standen auch in den Seitenaufgängen. Sie alle waren gekommen, um Kanzler Helmut Kohl (CDU) zu hören - einige hingen regelrecht an seinen Lippen. Sie wollten erfahren, ob sie morgen und übermorgen noch einen Job haben.

In einer emotionalen Rede enttäuschte Kohl seine Zuhörer auch nicht: „Ich werde alles tun, damit dieses Chemiedreieck erhalten bleibt.“ Bei seinem anschließenden Besuch in Halle warfen aufgebrachte Demonstranten Eier auf den Kanzler. Diese Bilder gingen um die Welt. Kohl soll danach seinen Stab zusammengetrommelt und kategorisch verlangt haben, dass in der Chemieregion etwas geschehen müsse. „Mit sicherem politischen Gespür witterte er die Gefahr einer sozialen Explosion“, sagte der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch einmal dazu.

Zuvor waren im März 1991 in Leipzig die Montagsdemonstrationen wieder aufgelebt. Bis zu 60.000 Teilnehmer gingen auf die Straße. Statt „Helmut nimm uns an die Hand und führ uns ins Wirtschaftswunderland“ stand nun auf den Transparenten „Von Honecker belogen, von Kohl betrogen“. Von Kohls versprochenen „blühenden Landschaften“ war nichts zu sehen. „Helmut Kohl hat politisch alles richtig, wirtschaftlich aber alles falsch gemacht“, analysierte später der Ex-Ministerpräsident Baden-Württembergs, Lothar Späth (CDU), der sich nach der Wende als Sanierer der Zeiss-Nachfolgebetriebe in Jena einen Namen machte.

„Ohne Helmut Kohl hätte es keine Wiedervereinigung gegeben, er war als überzeugter Europäer einer der wichtigsten Architekten des vereinten Europa. Die neuen Bundesländer wissen, was sie an Kohl hatten. Ohne seine politischen Entscheidungen hätte es beispielsweise kein Wiedererstehen des Chemiedreiecks in Sachsen-Anhalt gegeben. Viele persönliche Erinnerungen verbinde ich mit ihm und für meine politische Entwicklung war die Persönlichkeit Helmut Kohl prägend.“

„Bei aller Kritik, Helmut Kohl war ein großer Europäer, ohne den das heutige Europa und die Deutsche Einheit nur schwer vorstellbar sind.» Dem Altkanzler gebühre Dank, bemerkte auch FDP-Landeschef Frank Sitta. Kohl habe die Entwicklung Deutschlands wie kaum ein anderer geprägt und gestaltet.“

„Bei allen Differenzen, die wir mit Helmut Kohls Politik und der seiner CDU haben: Er war ein großer Europäer und dafür gebührt ihm großer Respekt, dem wir ihm auch entgegenbringen.“

„Dies ist ein trauriger Tag. Ein großer Mann ist von uns gegangen. Helmut Kohl war der Grund, warum ich nach der Deutschen Einheit in die CDU eingetreten bin.  Deutschland wie wir es im Jahr 2017 kennen, wäre ohne den Altkanzler nicht denkbar. Helmut Kohls Lebensleistung – Die Deutsche Einheit – wird für immer ein lebendiges Denkmal für alle Deutschen und Europäer bleiben.“

„Altkanzler Helmut Kohl wird seinen Platz in unseren Geschichtsbüchern einnehmen. Er war ein durchsetzungsstarker Vollblutpolitiker. Mit Euro, Eurokratie, Schwarzgeldaffäre und als Merkel-Macher bietet er aber sicher auch viel Angriffsfläche. Der Kanzler der deutschen Einheit wird Kohl allerdings immer sein und bleiben."

Der in der vergangenen Woche verstorbene Kanzler wird am 1. Juli für seine Verdienste mit einem europäischen Staatsakt geehrt. Doch hat der Kanzler der Einheit beide Teile Deutschlands auch wieder gut zusammengefügt? Vor allem ökonomisch lohnt ein Blick zurück, weil man auch für heutige Entscheidungen daraus lernen kann.

Helmut Kohl rettete durch persönlichen Einsatz wichtige Industrien in Ost-Deutschland

Kohls engster wirtschaftspolitischer Berater damals war Johannes Ludewig, Er leitete die Abteilung Wirtschaftspolitik im Kanzleramt und wurde später Bahn-Chef. „Es ist Blödsinn, zu behaupten, dass sich Kohl nicht für die Wirtschaft interessierte und nur Fehler machte“, sagt Ludewig heute. Damals sei fast kein Tag vergangen, an dem sie nicht über die Situation gesprochen haben. „Entscheidungen wurden mitunter innerhalb von zwei Stunden getroffen.“

Die Ausgangssituation war politisch geprägt: Nach dem Mauerfall gingen Monat für Monat Zehntausende Ostdeutsche in den Westen. Zudem waren noch 370.000 Sowjet-Soldaten in der DDR stationiert. „Das waren die zwei wesentlichen Gründe, warum Kohl eine schnelle Einheit anstrebte“, sagt Ludewig. Es sei unklar gewesen, ob durch Umbrüche in Russland sich nicht das Fenster zur Einheit wieder schnell schließt. Allen sei bewusst gewesen, dass die Währungsunion für die schwache ostdeutsche Wirtschaft problematisch ist.

Allerdings hatten Kohl und seine Berater unterschätzt, wie schnell vor allem die Industrie zusammenbrach, Bis 1991 schnellte die Zahl der Arbeitslosen im Osten auf 1,5 Millionen hoch. 1,67 Millionen Menschen erfuhren erstmals, was Kurzarbeit null heißt - zu Hause sitzen und dennoch bezahlt werden. Die noch unter der letzten SED-Regierung von Hans Modrow gegründete Treuhandanstalt, welche die DDR-Betriebe verwaltete, setzte auf die Losung: Schnell privatisieren, entschlossen sanieren und behutsam stilllegen. Das führte dazu, dass 46 Kombinate, die mehr als 5.000 Mitarbeiter beschäftigten, fast alle zerschlagen wurden.

Die Rede in Schkopau bedeutete laut Ludewig einen Paradigmenwechsel: „Wir definierten industrielle Kerne, die unbedingt erhalten bleiben sollten.“ Eine solche Industriepolitik habe es in der alten Bundesrepublik nicht gegeben, da man den Marktkräften vertraute. Auf die setzte Kohl nun nicht mehr allein. Neben der Chemie in Mitteldeutschland waren die Schwerpunkte: die Halbleiterindustrie in Dresden, die Werften an der Küste, die optische Industrie in Thüringen und der Maschinenbau in Magdeburg. „Bis auf den Maschinenbauer Sket konnten wir auch alle Kerne erhalten“, sagt Ludewig.

Die Bilanz der Treuhand sah 1994 wie folgt aus: 6.546 Betriebe wurden vollständig oder mehrheitlich privatisiert und 3.718 abgewickelt. Daneben gab es 25.000 sogenannte „kleinere Privatisierungen“ ehemals volkseigener Institutionen: 22 340 Geschäfte, Gaststätten und Hotels sowie 1.734 Apotheken, 475 Buchhandlungen und 481 Kinos fanden neue, private Besitzer. Interessant ist auch die neue Eigentümerstruktur: 80 Prozent des DDR-Produktionsvermögens ging bis Mitte 1994 an Westdeutsche, 14 Prozent an Ausländer, sechs Prozent an einstige DDR-Bürger. Viele Ostdeutsche sahen das als Ausverkauf. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass viele Unternehmer, die einst die DDR freiwillig oder unfreiwillig verlassen mussten, nun zurückkehrten.

Die Umstrukturierung der Wirtschaft wurde mit Hunderten Milliarden D-Mark erkauft. Rüdiger Pohl, langjähriger Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) erinnert sich an einen Satz von Kohl: „Am Geld darf die Einheit nicht scheitern.“ Die Ökonomie habe bei Kohl nie im Vordergrund gestanden. Beim Thema Rente sagte Kohl im Gespräch: „Ich kann es nicht ertragen, wenn das arme Mütterchen in Frankfurt (Oder) schlechter gestellt wird, als das arme Mütterchen in Frankfurt (Main).“ Nach Worten Pohls argumentierte der Kanzler vielfach moralisch und nicht ökonomisch. Für Kohl stand fest: Wo ein politischer Wille ist, da ist auch ein Weg.

Konzernbosse ließen Helmut Kohl hängen

Das sahen nicht alle so, vor allem nicht in den Chefetagen deutscher Konzerne. Diese hielten sich vielfach bei Investitionen zurück. „Fast alle großen Privatisierungen in den neuen Ländern wurden durch ausländische Konzerne gestemmt“, sagt Ludewig. Der US-Chemieriese Dow übernahm die Kunststoff-Herstellung in Schkopau, der US-Chip-Hersteller AMD baute neue Werke in Dresden, der kanadische Zugbauer Bombardier kaufte die Waggonbau-Unternehmen und der französische Erdöl-Konzern Elf Aquitaine errichtete eine neue Raffinerie in Leuna. Letztere soll am Ende nur durch direkte Intervention Kohls bei seinem Freund und französischen Präsidenten François Mitterrand zustande gekommen sein.

Kohl soll enttäusch gewesen sein, dass deutsche Konzerne sich in den Jahren nach der Wende nicht stärker engagierten. Bayer baute ein neues Aspirin-Werk in Bitterfeld. „Das war gut, doch die Leverkusener hätten sicher die Kraft gehabt, fünf Produktionsanlagen in dieser Größenordnung zu errichten“, merkt Ludewig an. In den neuen Ländern seien vor allem Herstellungsbetriebe angesiedelt worden. Ökonomen sprechen auch von verlängerten Werkbänken.

Während Anfang der 90er Jahre vor allem die Baubranche das Wachstum ankurbelte, waren es ab Mitte der 90er Jahre neue und modernisierte Industrie-Firmen, die die Wirtschaft antrieben. Doch spätestens Ende der 90er Jahre zeigte sich, dass der Osten bei 70 bis 80 Prozent der westdeutschen Leistung verharrte - bis heute hat sich daran nichts geändert. Einen wesentlichen Grund dafür sieht Wirtschaftsforscher Joachim Ragnitz vom Ifo in Dresden in Kohls Politik begründet: „Es entstanden zu wenig eigenständige Konzerne mit eigenen Zentralen.“ In diesen sitzen zumeist ein gut verdienendes Management und Forschungsabteilungen. „Das Fehlen dieser Zentralen ist zum großen Teil die Erklärung für den ökonomischen Rückstand“, so Ragnitz. In anderen Bereichen sei die Struktur von Ost und West ähnlich.

Lothar Späth hat mit Jenoptik einen solchen Konzern geschaffen. Mit drei Milliarden DM von der Treuhand hat er nicht nur die Optik-Werke in Jena modernisiert, sondern ging vor allem in Westdeutschland auf Einkaufstour, um sich Firmen und Absatzmärkte zu kaufen. Auch Ludewig sagt rückblickend: „Wir hätten sicher noch ein paar Milliarden aufbringen sollen, um mehr eigenständige Unternehmen mit einer Kriegskasse ausstatten.“ Das sei ein Versäumnis. Der ehemalige Wirtschaftsberater und Bahnchef meint aber auch, dass es - bei allen Konflikten zwischen Kohl und Späth - zu wenige Spitzenkräfte gab, die sich wie Späth engagiert haben. „Viele haben lieber von der Zuschauertribüne zugeschaut und gute Ratschläge gegeben.“

Betrachtet man heute die ostdeutsche Wirtschaft, sind „blühende Landschaften“ durchaus vorhanden - aber auch einige kahle Regionen. Persönlich kann die Mehrzahl der Ostdeutschen wahrscheinlich eine positive Bilanz ziehen. Und Wirtschaftsprofessor Pohl bemängelt, dass das Kohl-Zitat immer verkürzt wiedergegeben wird. Komplett heißt es: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Dass das gelungen ist, kann wohl kaum jemand abstreiten. (mz)

Kohl besuchte in den 90er Jahren auch Dessau und sprach mit dem damaligen DGB-Kreisvorsitzenden Udo Gebhardt. Dieser wurde später Gewerkschaftschef des DGB in Sachsen-Anhalt.
Kohl besuchte in den 90er Jahren auch Dessau und sprach mit dem damaligen DGB-Kreisvorsitzenden Udo Gebhardt. Dieser wurde später Gewerkschaftschef des DGB in Sachsen-Anhalt.
Wolfgang Scholtyseck