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Noch 100 Tage bis zur Wahl Noch 100 Tage bis zur Wahl: Kann SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz Bundeskanzlerin Angela Merkel noch gefährlich werden?

16.06.2017, 10:48
Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz bei der Gesprächsreihe "Brigitte Live" zur Bundestagswahl 2017.
Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz bei der Gesprächsreihe "Brigitte Live" zur Bundestagswahl 2017. dpa

Berlin - Denkt Martin Schulz an den Wahlabend, kommt ihm Johannes 19, Vers 30 in den Sinn. „Es ist vollbracht“, will der SPD-Kanzlerkandidat am 24. September in sein Tagebuch schreiben. Er meint damit den Machtwechsel. In der Bibel waren es die letzten Worte von Jesus nach der Kreuzigung, bevor er verschied. Beim „Brigitte“-Talk in einem rosa Sessel auf einer Berliner Theaterbühne trat Schulz aber alles anderes als fatalistisch auf.

Ein demoralisierter Peer Steinbrück zeigte 2013 zum Ende eines aussichtslosen Wahlkampfes gegen Angela Merkel auf einem Magazin-Cover den Stinkefinger - Schulz zeigt trotz schwieriger Ausgangslage Haltung und Kampfgeist. Am Sonntag stellt er sein neues Buch vor („Was mir wichtig ist“). Schenkt man den Umfragen Glauben, wollen viele Wähler ihr Kreuz in 100 Tagen aber eher nicht bei ihm und der SPD, sondern bei Merkel und der Union machen.

Auch die Dauerkanzlerin ist spirituell unterwegs. Von ihrer Privataudienz bei Papst Franziskus in Rom an diesem Samstag dürfte sie sich auch ganz irdische Effekte erhoffen. Gerade bei den kritischen Konservativen in den eigenen Reihen könnten schöne Fotos mit dem populären Papst im Wahlkampf ein paar Pluspunkte bringen. Schon zum vierten Mal trifft die Protestantin den Pontifex.

Nach dem monatelangen Streit mit CSU-Chef Horst Seehofer über ihre Flüchtlingspolitik könnte Merkel mittlerweile wieder einigermaßen entspannt sein. Die drei Landtagswahlen im Frühjahr - Saarland, Schleswig-Holstein und am wichtigsten Nordrhein-Westfalen - hat die CDU wider Erwarten gewonnen. Die Unions-Umfragewerte sind gestiegen, von 32 Prozent Mitte Februar auf bis zu 39 Prozent, Merkels persönliche Beliebtheitswerte ebenfalls.

Die Euphorie-Welle um Schulz, von der im Frühjahr viele dachten, sie könne Merkel aus dem Kanzleramt spülen, scheint ausgelaufen. International wird sie von manchen schon als Gegenspielerin von US-Präsident Donald Trump und neue „Führerin der freien Welt“ gehandelt.

Merkel beschwichtigt. Die drei Siege sagten noch nichts über die Bundestagswahl aus, glaubt die CDU-Chefin. Jetzt gelte: Neues Spiel, neues Glück. Merkel fürchtet, Selbstzufriedenheit könnte Gift im Wahlkampf sein. Am Ende könnten die Anhänger am 24. September Zuhause bleiben, weil sie denken, die Sache sei eh schon gelaufen. Die Wahl werde erst in den letzten sechs Wochen davor entschieden, heißt Merkels Mantra.

Bis dahin steht die Kanzlerin vor ziemlich großen Herausforderungen. Quasi nebenbei wollen CDU und CSU Anfang Juli noch ein gemeinsames Wahlprogramm präsentieren. Hält der Burgfriede mit Seehofer? Dann der G20-Gipfel ein paar Tage später in Hamburg, wo Trump und der Russe Wladimir Putin erstmals persönlich aufeinandertreffen.

Sollte der US-Präsident den Gipfel wie bei G7 auf Sizilien blockieren - würde dann ein G20-Misserfolg mit der Wahlkämpferin Merkel nach Hause gehen? Schafft sie es umgekehrt, eine breite internationale Anti-Trump-Allianz etwa für den Klimaschutz zu mobilisieren, könnte Merkel profitieren.

Schulz lästerte gerade, Merkels Auftritte auf den roten Teppichen dieser Welt seien zu wenig, um Deutschlands Zukunft zu sichern. Die SPD versucht, mit vielen Konzepten zu Rente, Bildung, Familie und Sicherheit die schweigsame Union in die Enge zu treiben. In der kommenden Woche will Schulz das parteiintern heftig umkämpfte Steuerkonzept präsentieren. Gelingt den Genossen die Quadratur des Kreises? Arbeitnehmer mit unteren und mittleren Einkommen sowie Facharbeiter entlasten - dafür bei Reichen und Firmenerben die Steuerschraube anziehen, das ist der Plan.

Am übernächsten Sonntag wird die SPD ihr Wahlprogramm dann auf einem Parteitag in Dortmund beschließen. Schulz will mit einer großen Rede die Partei mobilisieren. Die SPD steht unverändert geschlossen und loyal zum 61-Jährigen aus Würselen, wie Vertreter aller Flügel überzeugend schildern. Hier und da wird vorsichtig geklagt, der Kanzlerkandidat scheue das Risiko, auch mal eine provokante Message rauszuhauen, über die die Republik streiten könne.

Im persönlichen Duell mit Schulz hält Merkel an ihrer geübten Praxis fest, den Namen des Herausforderers gar nicht in den Mund zu nehmen. Schulz kritisiert ab und an Merkels über viele Jahre leidenschaftlose Europa-Politik, wahrt dabei aber stets die Form. Frontalangriffe auf die Kanzlerin schätzen viele Bürger eher nicht. Doch bald dürfte die Intensität zunehmen. In der kommenden Woche sind beide bei diversen Branchentreffen auf Stimmenfang - aber so getaktet, dass sie sich nicht die Hand geben müssen. Das wird aber sicher am 3. September passieren - beim einzigen TV-Duell.

Wo ist die Machtperspektive für Schulz? In der SPD-Herzkammer Nordrhein-Westfalen regiert künftig Schwarz-Gelb, in Schleswig-Holstein eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP. Diese Bündnisse können durchaus als Vorboten für den Bund gedeutet werden. Rot-Rot-Grün scheint nach dem Linke-Parteitag eine Schimäre zu bleiben. Mancher Sozialdemokrat hofft, Schulz werde noch wie der britische Labour-Chef und Linkspopulist Jeremy Corbyn eine fulminante Aufholdjagd hinlegen können. Es bleiben 100 Tage dafür, immerhin. (dpa)