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Harald Meller über Migration Harald Meller über Migration: "Wir sind alle mal eingewandert"

Von Nikta Vahid 20.10.2016, 09:56
Harald Meller
Harald Meller Günter Bauer

Halle (Saale) - „Wir sind das Ergebnis von Migration“, sagt Harald Meller. Der sachsen-anhaltische Landesarchäologe, dessen Name untrennbar mit der Himmelsscheibe von Nebra in Verbindung gebracht wird, ist der Hausherr beim 9. Mitteldeutschen Archäologentag, der von Donnerstag bis Sonnabend in Halle stattfindet. Die Konferenz widmet sich einem Thema, das gerade wieder aktueller ist denn je: Migration und Integration.

Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen - von der Archäologie, Ethnologie, Soziologie bis hin zur Biologie und Genetik - kommen in Halle zusammen, um, wie Harald Meller sagt, Geschichte zu schreiben. Der 56-Jährige leitet das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Die Tagung komme gerade zur rechten Zeit: „Migration ist ein spannendes und aufregendes wissenschaftliches Thema, das immer aktuell ist“, sagt Meller.

Migration in Mitteldeutschland

„Circa um 5500 vor Christus hat eine massive Migration stattgefunden, die nahezu zu einem Bevölkerungsaustausch geführt hat“, sagt Harald Meller. Vorher haben im heutigen Mitteldeutschland Jäger und Sammler gelebt. Auf der Basis von Jagd und von Sammeln zogen sie nomadisch durch die Gegend und waren vor allem eines: nicht sesshaft. Um 5500 vor Christus aber ändert sich einiges: Siedler aus dem Vorderen Orient und aus der Gegend Ungarns kommen in die Region und bringen die entscheidende Veränderung.

„Sie haben im Vorderen Orient etwas ganz neues entdeckt, nämlich das, was die Sesshaftigkeit bedingt: dass man Getreide ausstreuen und ernten kann.“ Gemeint ist der Ackerbau. Dazu kommt die Tierhaltung.

Sesshaftigkeit der Menschen

Dies habe, so Meller, zur Sesshaftigkeit der Menschen geführt. Aber noch zu viel mehr. Mit dem Ackerbau änderten sich auch die Ernährungsgewohnheiten der Menschen. Die verzehren nun plötzlich Kohlenhydrate gemeinsam mit tierischen Fetten und können somit Fett anlegen. Mit der Ernährung aus Wildfleisch und gesammelten Pflanzen war das kaum möglich. Das habe dazu geführt, dass Frauen nicht mehr nur alle fünf bis sechs Jahre schwanger werden konnten, sondern jährlich, erklärt Meller.

Die Folge: eine immense Bevölkerungsexplosion. Diese neu eingewanderten Bauern nahmen schnell Land ein, siedelten sich auf den fruchtbaren Lössböden Mitteldeutschlands an und vertrieben die Jäger und Sammler, die bisher dort lebten, aus der Region. Jene verschwanden - vorerst. Sie zogen gen Norden und siedelten sich rund um die Nord- und Ostsee an.

Neuankömmlinge in Mitteldeutschland

Die bäuerlichen Neuankömmlinge in Mitteldeutschland entwickelten sich im sogenannten Neolithikum von 5500 bis etwa 3500 vor Christus. Aber auch die ehemaligen Jäger und Sammler, die sich an die See zurückgezogen hatten, wurden langsam zu Bauern. „Sie erfanden die Traktion - den Pflug der durch Tierkraft gezogen wurde. Damit wurden sie so erfolgreich, dass sie um 3500 vor Christus wieder zurück nach Mitteldeutschland wanderten, um dort die Altansässigen zu vertreiben“, sagt der Landesarchäologe.

Etwa 2800 vor Christus sei noch eine völlig neue Gruppe hinzugekommen: die sogenannten Schnurkeramiker, die etwa aus den osteuropäischen Steppen nach Mitteldeutschland vorgedrungen sind. All diese Gruppen vermischten sich in der Frühbronzezeit zu einem Amalgam. „Damit haben wir im Wesentlichen auch die genetische Ausstattung Europas“, sagt Harald Meller.

Das verraten Zähne und Gene

Rein technisch gleiche die Arbeit eines Archäologen der eines Kriminologen, sagt Meller. Verschiedene Puzzle-Teile müssen zu einem Ganzen kombiniert werden, um die Wege von Völkern nachvollziehen zu können. Einerseits ließen sich über die Gene im Skelett Informationen finden. Doch neben der Untersuchung von DNA ließen sich auch in den Zähnen Informationen über die Lebensweise von Menschen ablesen, sagt Meller.

Die Beißer fungieren dabei wie versteinerte Fußspuren, denen man folgen kann. Es gilt, winzigste Spuren zu analysieren und zu entschlüsseln. „Im Zahnschmelz finden sich Ernährungssignale, also Informationen darüber, was Menschen gegessen und getrunken haben“, sagt Meller. Zähne sind auch ein Archiv der Umgebung, aus der Menschen gekommen sind. „Wenn man zum Beispiel Wasser am Alpenrand trinkt, dann ist es isotopisch anders als in Mitteldeutschland.“

Er nennt ein Beispiel: Kombiniere man alle Signale richtig, lasse sich etwa eine Art Zeitleiste der Fortbewegung eines Kinds erstellen: Die Wuchsrichtung des Zahns werde mit der Reihenfolge kombiniert, in der die Zähne bei Kindern gebildet werden. So lässt sich nachvollziehen, wann und wo sich das Kind aufgehalten hat. Im Zahnstein lassen sich außerdem erlittene Krankheiten und Mangelerscheinungen sowie die Ernährungsgewohnheiten eines Menschen ablesen.

Bauern aus der Jungsteinzeit

„Wir alle sind mal eingewandert und direktes Ergebnis von Migrationsbewegungen“, schließt Harald Meller. Unser Gensatz beweise außerdem: „Wir sind zuallererst mal alle aus dem Vorderen Orient gekommen.“ Wir sind eingewanderte Bauern des Neolithikums, also aus der Jungsteinzeit, die sich mit anderen Bevölkerungsgruppen vermischt haben. Solche Prozesse wiederholten sich in der Geschichte, sagt Meller. Vor allem sei die Welt alles andere als statisch. „Auch wenn wir uns das immer wünschen - der Mensch ist sicherheitsbedürftig - aber die Realität ist nicht statisch, sondern immer in Bewegung.“ (mz)