1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Dessau-Roßlau
  6. >
  7. Mysteriöser Todesfall bei Dessau: Mysteriöser Todesfall in Dessau: Familie sucht 50 Jahre nach Tod von Werner Spieß nach Zeugen

Mysteriöser Todesfall bei Dessau Mysteriöser Todesfall in Dessau: Familie sucht 50 Jahre nach Tod von Werner Spieß nach Zeugen

Von Lisa Garn 18.10.2016, 11:00
Einen Tag später ist in den Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten nur noch von einem Pkw die Rede. Beide sprechen übereinstimmen vom Kilometer 76,5 als Unfallort.
Einen Tag später ist in den Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten nur noch von einem Pkw die Rede. Beide sprechen übereinstimmen vom Kilometer 76,5 als Unfallort. Repro

Dessau/Berlin - Es sind Bilder eines Sommerurlaubs 1966: Am Ostseestrand in Timmendorf blickt ein großer Mann von fast zwei Metern in die Kamera.

Dunkles Haar, fragender Blick, er strahlt Kraft aus. „Ein ganzes Jahr sparte Mutti für die Reisen an die Ostsee“, wird sein Sohn später in ein Fotoalbum schreiben. „Wir verlebten wunderschöne Ferien, bis Vater auf der Rückfahrt mit seinem Motorroller in der Nacht schwer verunglückte.“

Am 23. August 1966 stürzt Werner Spieß auf der Autobahn bei Dessau und stirbt drei Wochen später im Bezirkskrankenhaus Dessau. Der Lehrer war 46 Jahre alt und hinterlässt seine Frau, zwei Töchter und einen Sohn. Sein Tod belastet die Familie bis heute.

Merkwürdigkeiten lassen Familie nicht los

Er ist ein blinder Fleck in ihrer Geschichte, über den lange geschwiegen wurde. Was die Angehörigen in all den Jahren nicht los lässt, sind die Rätsel, die Merkwürdigkeiten.

„Vieles an dem Unfall ist widersprüchlich und seltsam. Es gibt zu viele Fragen ohne Antworten“, sagt die Enkelin Linda Spieß. Ihren richtigen Vornamen will sie aus beruflichen Gründen nicht nennen. Die 37-jährige Berlinerin recherchiert seit Wochen zu dem Tod ihres Großvaters, hat mit Familienmitgliedern gesprochen, auch wenn es schwer fiel. Jetzt, nach 50 Jahren, sucht sie Zeugen, die sich erinnern. „Vielleicht gibt es für alles eine plausible Erklärung, dann ist es so. Dann kann man damit vielleicht seinen Frieden schließen. Aber ich will Klarheit.“

Werner Spieß fuhr 500 Kilometer mit dem Roller durch

Mitte August 1966 muss Werner Spieß seinen Urlaub in Timmendorf abbrechen, weil der Lehrer ins Ostseebad Zinnowitz abberufen wird. Er soll dort ein Ferienlager, das er jahrelang mit organisiert hatte, auflösen, weil ein Kollege überfordert war. Das sagte er seiner Familie vor der Abreise. Vor Ort klärt Werner Spieß ein paar Dinge und setzt sich am 22. August 1966 auf seinen Roller. Er will nach Hause, nach Sondershausen in Thüringen, wo die Familie wartet. Am nächsten Tag sollte der 21-jährige Sohn heiraten, Linda Spieß’ Vater.

Eigentlich war noch ein Zwischenstopp in Berlin geplant, aber Werner Spieß fährt durch - über 500 Kilometer auf einem Roller. „Er war bekannt dafür, dass er seine Liebsten gern überraschte. Wahrscheinlich wollte er deshalb früher nach Hause“, sagt Linda Spieß.

Werner Spieß nachts von Bus erfasst

Mitten in der Nacht am 23. August gegen 1.40 Uhr liefen bei Dessau plötzlich von rechts drei Hunde auf die Autobahn. Werner Spieß will nach links ausweichen, wird dabei aber von einem überholenden Fahrzeug erfasst. Von einem „Westberliner Omnibus“ spricht später die Liberal-Demokratische Zeitung in ihrem Unfallreport.

Einen Tag danach ist in den Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten dann von einem normalen Pkw die Rede. Es liegt nahe, dass in man in Polizeikreisen kein Interesse daran hatte, vom Klassenfeind etwas in den Medien zu lesen. Übereinstimmend aber geben beide Medien den Kilometer 76,5 als Unfallort an, er liegt zwischen den Abfahrten Dessau-Ost und Dessau-Süd.

Kleinhirn zerschmettert, schwerste Verbrennungen

Werner Spieß hat keine Chance. Nach seinem schweren Sturz wird er ins Dessauer Klinikum gebracht, die Polizei befragt vor Ort Zeugen. Noch in der Nacht überbringt ein Abschnittsbevollmächtigter der Familie in Sondershausen die Unfall-Nachricht. Sie war kurz, enthielt aber ungewöhnliche Details, erinnern sich die Angehörigen. Und auf dem Zettel, den er der Ehefrau gibt, steht als Unfallort im Bereich der Abfahrt Süd.

Die Hochzeit wird abgesagt, die Familie - neben dem Sohn die Töchter im Alter von 16 und 19 Jahren - fährt ins Krankenhaus. Dort liegt Werner Spieß mit lebensgefährlichen Verletzungen. Das Kleinhirn ist zerschmettert und er hat Verbrennungen dritten Grades. Den ersten Besuch beim Vater vergisst der Sohn nie. „Er erinnert sich eindringlich, wie sein Vater die Augen aufschlug“, sagt Linda Spieß. „Er wirkte aufgeregt, griff die Hand und wollte unbedingt etwas sagen. Aber er konnte nicht sprechen.“

Krankenhauspersonal ließ Familie über Werner Spieß' Tod im Dunkeln

Die Familie besucht ihn immer wieder - und kann doch nichts tun. Werner Spieß stirbt am 12. September. Als die Familie am selben Tag ins Krankenhaus kommt, wird sie schroff abgewiesen, so die Enkelin. „Das Personal sagte, man könne ihn nicht noch einmal sehen. Der Leichnam sei beschlagnahmt.“

Nun beginnt eine Zeit, die heute unmöglich wäre. Die Angehörigen wissen weder, woran Werner Spieß starb, noch, wo sich der Leichnam befindet.

Ein Schädel-Hirn-Trauma hatte das Krankenhaus als Todesursache angegeben, das weiß Linda Spieß heute aus Unterlagen des Dessauer Stadtarchivs. „Aber für meine Familie war der Leichnam verschwunden.

Wochenlang gaben Behörden keine Auskunft.“ Auch in Sondershausen stellen Einwohner Fragen. „Mein Opa war bekannt wie ein bunter Hund, er war beliebt, als Lehrer und als Mensch.“ Die Schule veranstaltet schließlich eine Trauerfeier. Die Teilnehmer saßen, offenbar ohne ihr Wissen, vor einer leeren Urne, so wird es erzählt.

Leiche wurde eingeäschert

Drei Wochen nach dem Tod von Werner Spieß bekommt die Familie am 3. Oktober 1966 plötzlich eine Nachricht. Die Urne soll auf dem Friedhof in Sondershausen abgeholt werden. Wie die Enkelin recherchierte, hatte das Volkspolizeikreisamt einen unnatürlichen Todesfall angezeigt, nach einer Obduktion hatte der Staatsanwalt die Leiche am 13. September zur Bestattung freigegeben. Sie wurde in Dessau eingeäschert. „Niemand hat meine Familie gefragt, ob sie eine Einäscherung möchten.“ Beigesetzt wurde Werner Spieß am 6. Oktober in Sondershausen.

Erinnerungen lösen noch heute Tränen aus

Humorvoll sei er gewesen und kreativ, weiß Linda Spieß aus Erzählungen. Die Erinnerungen lösen auch jetzt noch Tränen aus. Auch bei ihr, die ihn gar nicht kannte. Sein Tod bleibt unverarbeitet, weil die Umstände so rätselhaft bleiben. Und so bleiben auch die Fragen.

Warum gibt es unterschiedliche Angaben zum Unfall? Wem gehörten die Hunde, die Zeugen als groß und gepflegt beschrieben? Stammten sie aus der nahen Siedlung oder von Förstern des Waldgebiets? Aus einem Ermittlungsverfahren der Polizei war nie etwas bekannt geworden.

Im Unklaren gelassen zu werden, das Gefühl von Heimlichtuerei, das befeuerte die Vermutungen. In der Familie hält sich bis heute das Gerücht, dass die Tiere zu einem Turm nahe eines Wasserpumpwerk gehörten. „Es wurde erzählt, dass der Turm etwas mit Stasi-Aktivitäten zu tun gehabt haben soll und es Bewachungshunde waren“, sagt Linda Spieß. Und: „Ich kann mir inzwischen alles vorstellen oder nichts.“

Enkelin will Stasi-Akte einsehen und hofft auf Zeugen

Sie sprach in Dessau mit der Polizeidirektion, mit dem Krankenhaus, Unterlagen gibt es dort keine mehr. Sie setzte sich in Verbindung mit Archiven, auch mit dem Friedhof in Dessau, sie war in der Gerichtsmedizin in Halle, wo sie auf Stichworte zur Obduktion stieß.

Linda Spieß bereitet nun einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Stasiunterlagen-Behörde vor. Mit dem Fall hatte sich auch Sebastian Opitz von der Polizeidirektion in Dessau beschäftigt. Ihn lassen die Unterlagen der Enkelin „nicht an einem Verkehrsunfall zweifeln“. Er vermutet aufgrund der Zeitungsberichte den Unfallort zwischen den Abfahrten. „In der Nähe liegt die Siedlung Hagenbreite, was am ehesten die Hunde erklären könnte.“

Linda Spieß hofft nun auf Hinweise: Von Polizisten, die damals im Einsatz waren, Sanitätern, Krankenschwestern oder Ärzten. Oder von Menschen, denen etwas erzählt worden ist. „Mir geht es nicht darum, einen Schuldigen zu finden. Sondern um das Wissen, was passiert ist.“ Um den blinden Fleck sichtbarer und die Vergangenheit bewältigbarer zu machen.

Was bleibt, sind die Aquarelle im Haus der Eltern, die Werner Spieß gemalt hatte, die Fotos. „Die Sehnsucht nach der Ostsee ist bei uns noch immer erhalten“, hatte der Sohn damals unter das Bild vom letzten Urlaub geschrieben.

Linda Spieß bittet Personen, die Hinweise zum Fall haben, sich bei ihr zu melden unter Tel.: 030/70 08 23 79 und per Mail an [email protected]. (mz)

Das letzte Foto von Werner Spieß im Frühjahr 1966. Am 23. August verunglückte er auf der Autobahn zwischen den Anschlussstellen.
Das letzte Foto von Werner Spieß im Frühjahr 1966. Am 23. August verunglückte er auf der Autobahn zwischen den Anschlussstellen.
Thomas Ruttke/privat
Der letzte gemeinsame Sommer auf der Insel Poel. Werner Spieß verbringt dort mit seiner Frau und drei Kindern   den Urlaub. Er muss ihn unterbrechen - und kehrt nicht mehr nach Hause zurück.
Der letzte gemeinsame Sommer auf der Insel Poel. Werner Spieß verbringt dort mit seiner Frau und drei Kindern   den Urlaub. Er muss ihn unterbrechen - und kehrt nicht mehr nach Hause zurück.
privat
Die Liberal-Demokratische Zeitung berichtet am 25. August von dem schweren Unfall und gibt einen „Westberliner Reisebus“ an.
Die Liberal-Demokratische Zeitung berichtet am 25. August von dem schweren Unfall und gibt einen „Westberliner Reisebus“ an.
Repro
Familie Spieß sonnt sich neben ihrem Zelt im Sommer 1966.
Familie Spieß sonnt sich neben ihrem Zelt im Sommer 1966.
privat