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"Corelli" V-Mann Thomas Richter alias "Corelli": Wilde Gerüchte um Tod eines Hallensers

Von Steffen Könau 08.09.2016, 20:57
V-Mann Corelli bei einer Demo in Halle
V-Mann Corelli bei einer Demo in Halle Miteinander e.V.

Halle (Saale) - Der Mann war offensichtlich überhastet verschwunden. Auf einem Tisch liegt noch seine AOK-Karte, auf einem Schränkchen die Kündigung des Mail-Accounts. Die Sammlung von Modellautos Marke VW Corrado - und eine Sammelbox mit der Aufschrift „Schwarze Sonne“ sind ebenso noch da wie die  Standuhr mit dem roten „Blood&Honour“-Logo.

Alles unberührt, der Hausherr über Nacht verschwunden. Im Sommer 2012 war der Hallenser Thomas Richter urplötzlich untergetaucht. Der Mann, dessen Name auf einer Telefonliste des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) stand, der Mann, auf dessen Internetseite der Begriff NSU auftauchte, als noch niemand von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wusste, war fort.

Thomas Richter alias „Corelli“: Führender Nazi-Kader und Superquelle des Bundesamts

Es ist der Anfang des letzten Kapitels eines rätselhaften Lebens, das  nur immer noch rätselhafter wurde. Richter, 37 Jahre alt, war beides: führender Nazi-Kader und Superquelle des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). In die Szene hatten ihn seine Brüder eingeführt, damals, kurz nach dem Ende der DDR, als eine Gruppe, die sich Hallesche Deutsche Jugend nannte,  in der halleschen Neustadt einen  Bauernhof besetzt hielt. Westdeutsche Nazi-Größen wie Meinolf Schönborn halten dort Hof. Sie wollen das Machtvakuum im Osten für die „Bewegung“ nutzen.

Thomas Richter ist mittendrin, wie ein Videoschnipsel zeigt, der im Internet zu sehen ist: Bei einem Besuch in Schönborns Hauptquartier, das  gerade von der Polizei gestürmt wird, ist es Thomas Richter, der im Hintergrund aus einem Fenster springt und entkommt.

So kam Thomas Richter zum Decknamen „Corelli“

Sie bekommen ihn aber doch. Und weil er nach einer aus dem Ruder gelaufenen Party Schulden bei Meinolf Schönborn hat, verpflichtet sich Thomas Richter als Informant beim BfV. Der Mann, den seine Kameraden „HJ-Tommy“ nennen,  gibt sich den Decknamen „Corelli“ - eine Kombination zweier Dinge, die ihm wichtig sind: sein aufgemotzter VW Corrado und dessen Pirelli-Breitreifen.

HJ-Tommy ist kein Anführer, sondern der Strippenzieher im Hintergrund. Immer da, immer nahe bei den Anführern. Aber eher Beobachter als Aktivist. Tommy kümmert sich um die ersten Internetseiten der Bewegung. Er mietet Serverkapazitäten im Ausland und meldet als „Volkssturm Productions“ in Südamerika  Domainadressen an - etwa für den „Nationalen Beobachter“, eine rechtsextreme Internetseite, die Richter von seiner Wohnung aus betreibt.

300.000 Euro bis zum Ende seiner Laufbahn kassiert

Seine Kameraden staunen nicht schlecht, wie es HJ-Tommy gelingt, dem Verfolgungsdruck durch die Behörden auszuweichen. „Keiner wusste, wie er das immer machte“, sagt ein damaliger Bekannter. Als ein Nutzer im Forum des Nationalen Beobachters den Eintrag „man sollte mal ein paar Rote um die Ecke bringen“ hinterlässt, stürmt die Polizei die Wohnung in der halleschen Schiedstraße. Rechner und Datenträgern werden beschlagnahmt.

Die Ermittler werfen dem Mann, der als Spitzenquelle  des Inlandsgeheimdienstes bis zum Ende seiner Laufbahn rund 300.000 Euro kassieren wird, öffentliche Aufrufe zu Gewalttaten, Volksverhetzung und die Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole vor.

Doch zum Prozess kommt es nicht. Thomas Richter bleibt ungeschoren. Es gibt keine Anklage, weil - so wird Jerzy Montag, Sonderermittler des Bundestages, später herausfinden - Corellis V-Mann-Führer bei der Staatsanwaltschaft auf eine Einstellung des Verfahrens dringt. Und die Staatsanwaltschaft tatsächlich zusichert, die Akten „wenigstens für ein halbes Jahr nicht zu bearbeiten“.

Enttarnung am 17. September 2012

Seinerzeit wundern sich etliche Vertraute des rechten Webmasters.  Nach dem 17. September 2012 wundern sie sich nicht mehr. Richter wird an diesem Tag durch Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) enttarnt: Der Hallenser, hauptberuflich als Taschenhändler auf Wochenmärkten unterwegs,  habe  als V-Mann für den Verfassungsschutz gearbeitet, lässt der Minister durchblicken.

Es ist der Beginn der letzten Etappe in der Karriere des Hallensers, der  Bekannten zufolge über Jahre versucht haben soll, aus seinem Vertrag mit dem BfV herauszukommen. Über Nacht bricht Corelli seine Zelte in Leipzig ab, sogar das geliebte Auto lässt er stehen. Freunden schickt er eine knappe Nachricht: „Fliege in den Süden.“

Verfassungsschutz steckt Richter in eine „Schutzmaßnahme“

Alles andere als das. Weil Thomas Richter als gefährdet gilt, hat ihn der Verfassungsschutz in eine „Schutzmaßnahme“ gesteckt.  Er fliegt zwar zuerst ins Ausland, kehrt  aber schon am 24. September 2012 wieder zurück. Richter bekommt neue Papiere, er heißt jetzt Thomas Dellig und nicht einmal seine Brüder in Halle wissen, wo er ist. Lebenszeichen sendet er über einen Internetchat für Freunde PS-starker Autos. Und an einen Freund in Leipzig per SMS, hinter dem Rücken des BfV.

Für das Bundesamt ist Richter oder besser Dellig, der die Behörde über fast 20 Jahre lang mit manchmal tausend Meldungen pro Jahr beliefert hat, nun nur noch lästig. Nicht einmal in all den Jahren, so hat Jerzy Montag später recherchiert, habe das Amt versucht, Thomas Richter in einem Aussteigerprogramm unterzubringen.

Der Informant „Corelli“

Der Hallenser ist zu wertvoll als Informant. Er fliegt auf Verfassungsschutzkosten zu Ku-Klux-Klan-Treffen in die USA, er versorgt  den Geheimdienst mit Informationen über die Geldflüsse in der Szene und er erstattet Bericht über die Gefühlslage am rechten Rand. Das BfV ersetzt ihm sogar beschlagnahmte Rechner, Festplatten und Telefone, damit die Infos weiter fließen können. Nun aber soll er schnellstmöglich eine sogenannte Abschalterklärung unterzeichnen und bestätigen, dass er keine finanziellen Forderungen gegenüber dem BfV mehr habe.

Thomas Richter: Ein Agent im Ruhestand

Thomas Richter weigert sich. Er erhält  einen Lohnersatzbetrag von mehr als 800 Euro vom Amt, das ihm zudem einen Sprachlehrgang bezahlt. Auch die Miete für eine Wohnung im ostwestfälischen Schloß Holte-Stukenbrock übernimmt der Staat, verbunden mit der Auflage, den Kontakt mit seinem  Agentenführer abzubrechen. Betreut wird Dellig nun von anderen Mitarbeitern des BfV, die auch beim Ausräumen der Leipziger Wohnung und  der Einlagerung  des Hausrats helfen. Ein Agent im Ruhestand, der alles verloren hat.

Bis Thomas Richter doch noch einmal interessant wird, als ein Zuträger des Hamburger Verfassungsschutzes eine Daten-CD findet, die den Begriff NSU enthält. Der Mann erinnert sich, die CD von Richter erhalten zu haben, dem Mann, dessen Name schon auf der Telefonliste des NSU aufgetaucht war. Die CD geht auf eine Reise von Hamburg zum Generalbundesanwalt, aber auch an das Bundesamt für Verfassungsschutz, allerdings ohne Hinweis, dass der frühere Thomas Richter, jetzt  Thomas Dellig, etwas zum Inhalt sagen könne. Das erfahren die Verfassungsschützer erst am 4. April 2014. Worauf sie beschließen, Thomas Richter  dazu zu befragen.

Zweifel an der Todesursache

Doch es kommt nicht einmal mehr dazu, dass das zuständige Betreuungsteam von dieser Absicht informiert wird.  Schon zwei Tage bevor die CD beim BfV eintrifft, hat sich Thomas Dellig per SMS bei seinen Betreuern krankgemeldet. Telefonanrufe nimmt er danach nicht mehr an, auf SMS antwortet er nicht. Am Nachmittag des 7. April gehen die Beamten schließlich nachschauen. Als der Vermieter den beiden angeblichen Freunden seines neuen Mieters die Tür öffnet, liegt Thomas Richter unbekleidet auf dem Bett. Der 37-Jährige ist tot.

Offizielle Todesursache von Thomas Richter alias „Corelli“: Diabetische Stoffwechselentgleisung

Eine diabetische Stoffwechselentgleisung, verursacht durch eine unerkannte Zuckererkrankung, soll die Todesursache sein. Doch in den Wochen und Monaten danach mehren sich die Zweifel. Immer wieder tauchen erst neue Handys, Tablets und Laptops auf, die Richter nutzte. Später sind es SIM-Karten, die er bei seinen V-Mann-Führern abgab und die  danach irgendwo in einem Tresor  verschwanden.  Keine wirklichen Hinweise, sondern zahllose Ungereimtheiten nährten den Verdacht, Thomas Richter könne tiefer in die Strukturen  des NSU eingebunden gewesen sein, als seine V-Mann-Führer jahrelang glaubten.

Sein Tod kurz vor einer erneuten Befragung dazu verstärkten den Eindruck, hier sei etwas nicht  mit rechten Dingen zugegangen. Doch Belege findet Sonderermittler Jerzy Montag auch in einer zweiten Aktenprüfung nicht. Corellis Beziehungen in Richtung NSU seien begrenzt gewesen, sein Kontakt zu Uwe Mundlos nur flüchtig. Mehrere der NSU-CDs habe er zwar gebrannt, aber wohl nicht hergestellt. Und die ersten Hinweise auf die Terrorgruppe im Nazi-Fanzine „Der weiße Wolf“ habe er selbst vielleicht nicht einmal gelesen. Thomas Richter war ein Nazi, aber, so Montag, „er erwähnte auch, dass er sich vom Rechtsextremismus lösen und ein bürgerliches Leben als Familienvater führen wollte“.

Verfassungsschutz: Richter lernte, dass für Informationen Geld fließt

Dazu kam es nicht, weil  die Verfassungsschützer nie in Erwägung zogen, ihrer Top-Quelle beim Ausstieg zu helfen. „Stattdessen lernte Richter, dass für Informationen Geld fließt.“ Dem Hallenser sei so nur ein Doppelleben geblieben, als Rechtsextremist mit einer „lebenslangen Identität als Verräter im eigenen sozialen Feld“, wie es Montag nennt. (mz)