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Hermann Kant (  Hermann Kant ist tot: Bekanntestes Werk ist "Die Aula"

Von Christian Eger 14.08.2016, 09:47
Der Autor Hermann Kant
Der Autor Hermann Kant dpa-Zentralbild

Halle (Saale) - Vor zwei Monaten meldeten sich noch einmal die Journalisten. Nicht mehr Auge in Auge, sondern telefonisch. Seit Hermann Kant nach einem schweren Sturz sein Häuschen am mecklenburgischen Prälank-See aufgeben musste, lebte er in Neustrelitz in einem Haus, das betreutes Wohnen anbot. Der Schriftsteller konnte kaum noch sehen, das Lesen war ihm wie das Schreiben unmöglich. Nur das Telefonieren ging noch gut. Und aus Anlass seines 90. Geburtstages, den Kant  Mitte Juni feierte,   erkundigte sich das veröffentlichende Deutschland nach dem Befinden des Mannes, der  von 1978 bis 1989 als Vorsitzender des DDR-Schriftstellerverbandes der mächtigste Autor im Osten gewesen war.

Auch die Mitteldeutsche Zeitung rief an. Einmal mehr verteidigte Kant seinen Einsatz als Schriftsteller-Funktionär. Das sei doch „eine reizvolle Aufgabe“ gewesen, sagte er. „Dass sie mich abgenutzt hat, ist eine andere Geschichte.“  Auf die Frage nach den Gründen des DDR-Scheiterns nannte er „das Nicht-Einbezogen-Sein der Bevölkerung in die Prozesse, die sie selber betrafen“. Dann sagte Kant, dem die alten Kämpfe als ausgefochten galten, noch das: „Manchen kann es nicht vorbei genug sein, sie wollen immer noch einmal siegen.“
Ein typischer Kant. Lakonisch, gewitzt, sofort zitierfähig.

Aber auch polemisch. Denn wer will denn eigentlich heutzutage im Blick auf die DDR  „immer noch einmal siegen“?  Jedenfalls nicht all die  Menschen, denen die DDR eine persönliche und berufliche Entwicklung  verweigert hatte, die sie unter freiheitlichen Umständen hätten einschlagen können. Nicht jene Autoren, die gar nicht erst in den DDR-Schriftstellerverband aufgenommen worden waren mit seinem Rundum-Service und der Westreise irgendwann.   Die sich nicht etablieren durften, die nicht oder nur randständig veröffentlichen konnten. Die gehören bis heute zu den Stummen, nicht öffentlich Gelisteten. „Siegen“, und sei es rhetorisch, wollen doch die Anderen, die   öffentlich die Erzählung ihres Lebens verteidigen dürfen.  

Die Lebenserzählung des gebürtigen Hamburgers Hermann Kant gehört zu den interessanteren. So wie Kants Bücher vor 1989 in den DDR-Auslagen zu den interessanteren gehörten. Der 1926 geborene Gärtnersohn zählt wie der fast gleichaltrige Günter Grass zu jener Kriegs- und Flakhelfergeneration, die nach 1945 nicht weiter verführt sein, sondern endlich selbst führen wollte. Das gelang. 1940 siedelte die Familie Kant nach Parchim über. Der Sohn absolvierte eine Elektrikerlehre, wurde 1944 in den Kriegsdienst gezogen. In der polnischen Gefangenschaft von 1945 bis 1949 erfolgte dann die politische Erweckung:  Kant gehörte zu den Mitgründern des Antifa-Komitees im Arbeitslager Warschau.

Mit der Entlassung 1949 in die DDR trat Kant in die SED ein, in einem zweijährigen Kurs an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) in Greifswald holte er das Abitur nach. Von 1952 bis 1956 Studium der Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin.  Er war 27 Jahre  alt und bereits Parteisekretär des Germanistischen Institutes, als er den 17. Juni 1953 erlebte.  Ein „harter Knochen“, wie er  2003 der MZ sagen wird. „Ich bin darauf nicht stolz, ich stelle das nur fest.“  Nach einem journalistischen Zwischenspiel debütierte Kant 1962 mit dem Erzählband „Ein bisschen Südsee“.   Drei Jahre darauf erschien der Roman „Die Aula“: in der DDR Schullektüre, international  mehr als 650 000 Mal verkauft.  

Am Beispiel des Elektrikers Robert Iswall  und seiner ABF-Freunde rückt die Aufbauphase der DDR in den Blick. In Halle kam der Stoff 1967 auf die Bühne,  Kurt Böwe spielte den Trullesand. Die vom Deutschen Theater in Berlin übernommene Fassung war ein Publikumserfolg. Wie viele von Kants Büchern, die noch folgen sollten. „Das Impressum“ 1972, das mit dem Ausruf des  Chefredakteurs Robert Iswall beginnt: „Ich will aber nicht Minister werden!“ Fünf Jahre darauf „Der Aufenthalt“, von Wolfgang Kohlhaase verfilmt,  Kants bestes, weil wahrhaftigstes Buch. Es schildert die Warschauer Haft des  19-jährigen deutschen Kriegsgefangenen Mark Niebuhr.

Immer ist Kant ein origineller, handwerklich spielfreudiger Autor, ein Ironiker,  der unterhalten will.  Mit den  politischen Tatsachen nahm er es nicht so genau, die nebelte Kant in Rhetorik ein, weshalb seine Bücher in Sachen DDR nur bedingt auskunftstauglich sind. Hauptsache schön gesagt. Kant pflegte diese Marotte.  Er nannte sie  sein „Formulirium tremens“. Das kam in den Jahren nach 1989 zur vollen Entfaltung. Seine autobiografischen Bücher mussten missglücken.  Eine Erzählung, die er über den den 17. Juni 1953 schreiben wollte, kam nie zustande. Er war auch  nicht der Mann für die  Selbstinfragestellung.

Nach zehn Jahren der Vize-Präsidentschaft zog es Kant  1978 auf den Chefsessel des DDR-Schriftstellerverbandes. Er wollte machen. Und mitmachen. Überall. Er saß im SED-Zentralkomitee (1974-1979), in der SED-Bezirksleitung Berlin (1974-1979), in der Volkskammer der DDR (1981-1990). Und manches modernisierte er ja auch in dem Autorenverband, der nach dem Motto „Teile und herrsche“ funktionierte. Wer nicht teilte, flog raus. Unter Kants Führung wurden neun Autoren 1979 aus dem Verband ausgeschlossen. Dabei wird gern übersehen, dass außer Kant auch noch 300 einverstandene Kollegen dafür stimmten. Als Funktionär war Kant auch ein Zyniker (1979 rief er dem aus der DDR gejagten Reiner Kunze hinterher: „Vergeht Zeit, vergeht Unrat“), auch ein Demagoge (Uwe Johnsons Bücher seien in ihrer DDR-Aussage „falsch und böse“). Immerhin hat Kant nach 1989 die Konfrontation nicht gemieden. Er lief nicht weg, wenn ihn eine Anfrage erreichte. Wenn überhaupt noch eine kam.

Wer Kant in seiner kleinen, wie notdürftig zusammengesetzten Hütte am Prälanker See aufsuchte, erlebte einen gern hochfahrenden, streitbaren,  auch ernsthaften  Gesprächspartner. Man musste mit ihm um Antworten kämpfen. Aber das Kämpfen war möglich. Kant sehnte sich nach Unterhaltung. Er, dem die Freunde verloren gingen,  war nicht einsam, aber allein.  Auf dem Vertiko stand die Hacks-Werkausgabe, vom 2003 gestorbenen Autor signiert. Auf dem Esstisch lag Literatur über den Warschauer Aufstand. Der „New Yorker“, den er im Abo hielt. Nur das Schreiben wollte nicht mehr gelingen. Kant quälte sich wie ein Kleinkunstwerker, dem unter dem  Text das Thema verloren gegangen war.
Hätte Kant  die Funktionärs-Rolle meiden sollen, um als Schriftsteller zu bestehen? Alles spricht dafür. Es sei für einen Dichter nicht heilsam, schrieb die Philosophin Hannah Arendt, sich da anzusiedeln, wo die Fetzen fliegen. Sie sagte das im Blick auf Bertolt Brecht, der nach seiner  Ansiedlung in der DDR seine literarische Kraft verloren hatte. Kant ließ selbst die Fetzen fliegen. Er hatte keine Distanz mehr, keine Freiheit, die ein Dichter braucht. Bis zuletzt war er in der Rolle gefangen, die ihn als Schriftsteller verstummen ließ.

Er führe „das Leben eines Mannes“, sagte Kant in den 1990er Jahren, „der weiß, dass er seine Sache verloren hat, und sie nicht zuletzt auch deshalb verloren hat, weil er  Teil dieser Sache war.“ Ein Satz, der wie immer interessant klang, und wie immer  alles offen ließ. Von Hermann Kant aus wird es offen bleiben. Zwei Monate nach seinem 90. Geburtstag, den er noch groß im Theater Neustrelitz feierte, ist der Schriftsteller am Sonntagmorgen in einem Krankenhaus in  Neustrelitz gestorben. (mz)