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Gewalt in Gräfenhainichen Gewalt in Gräfenhainichen: Schüsse knallen auf Flüchtlingsunterkunft

Von Alexander Baumbach 27.02.2016, 18:31
Das Schleifer-Gebäude in Grfäfenhainichen nach den Schüssen am 27. Februar
Das Schleifer-Gebäude in Grfäfenhainichen nach den Schüssen am 27. Februar Thomas Klitzsch

Gräfenhainichen - Nun ist es amtlich - billigend in Kauf nehmen Kriminelle die Verletzung oder gar den Tod von Wachleuten in Gräfenhainichen (Landkreis Wittenberg). Kurz vor Mitternacht knallen Schüsse im Gadewitzer Weg. Es ist 23.15 Uhr, als mehrere Projektile auf das zweite Obergeschoss der geplanten Flüchtlingsunterkunft abgegeben werden.  Die Gewaltspirale in Gräfenhainichen (Landkreis Wittenberg) dreht sich immer schneller am Rande der ehemaligen Industriestadt zwischen Dübener Heide und Elbaue.

Sachschaden bei mehreren tausend Euro

Verletzt wird glücklicherweise niemand - dafür werden aber Fensterscheiben des ehemaligen Bürogebäudes zerstört, die Polizei beziffert den Sachschaden auf mehrere tausend Euro. In einer Pressemitteilung aus dem Lage- und Führungszentrum der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost wird Bundespräsident Gauck zitiert, um die Tat als „Teil einer ,verstörenden Entwicklung’“ einzuordnen. Sie zeige die zunehmende Hemmungslosigkeit von Ausländerfeinden, denen Staat und Gesellschaft gemeinsam entgegen treten müssen. Zum Kaliber der benutzten Waffe kann die Polizei gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung keine Angaben machen. Ralf Moritz, Pressesprecher der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost in Dessau-Roßlau, lässt am  Samstagvormittag nur durchblicken, dass es sich um eine „erlaubnispflichtige Waffe“ handelt - mithin also kein Luftgewehr.

Massive Drohungen gegen Ulf Künemund

Dass die Gesellschaft in Gräfenhainichen wie von Gauck gefordert solchen Auswüchsen entgegentritt ist spätestens seit Dezember kein Geheimnis. Ein Bürgerbündnis macht sich stark, Toleranz und Weltoffenheit der kleinen Heidestadt zu zeigen - und zu wahren. Ein Bürgerfest, dass Kontrapunkt zu einem rechten Aufmarsch „besorgter Bürger“ sein soll, wird mit Buttersäure attackiert. Der Staat - sprich: Polizei - sucht bis heute nach den Tätern. 

Einer der Protagonisten des demokratischen Widerstandes in der Heidestadt, Ulf Künemund, erhält massive Drohungen, gerät in die Schusslinie einer selbsternannten „Bürgerkommission“. Tilo B., ein ortsbekannter Nazi streut derweilen fleißig Falschinformationen über die sozialen Medien, was Termin und Anzahl der im Schleifer-Gebäude unterzubringenden Asylbewerber angeht. Bürgermeister und Kreisverwaltung dementieren, der Stadtrat hingegen kann sich zu einem gemeinsamen Signal gegen rechte Gewalt am Rande Gräfenhainichens nicht durchringen.

Auch die Täter des ersten Anschlags auf das Ex-Bürogebäude, dass in Gräfenhainichen jeder unter dem Namen „Schleifer-Gebäude“ kennt, sind immer noch auf freiem Fuß. Die Verbrecher waren in den Bau eingedrungen, hatten das Objekt geflutet und damit einen immensen Schaden angerichtet. Wenige Tage später hätte der Bau 80 Flüchtlingen Obdach gewähren sollen, bewacht war er nicht. Auch in Wittenberg wird in diesen Tagen im Dezember eine geplante Flüchtlingsunterkunft von Unbekannten attackiert. Die ehemalige Karl-Marx-Schule, die zur Unterbringung von wesentlich mehr Asylbewerbern genutzt werden soll, wird mit - Achtung, Wiederholung - Buttersäure angegriffen. Die Polizei tappt - Achtung, Wiederholung - im Dunkeln.

Dürre Pressemitteilung aus dem Innenministerium

Auch als eine Wachschutzfirma beauftragt wird, das Schleifer-Gebäude in Gräfenhainichen zu sichern, können Kriminelle dennoch immer wieder das Haus beschädigen. Mehrfach fliegen Steine gegen und durch die Scheiben, Tafeln, Türen - zuletzt erst eine Woche vor den Schüssen auf den Schleifer-Bau. Reaktion des Landkreises, der für die Unterbringung von Asylbewerbern zuständig ist: es bleibt dabei, das Haus wird hergerichtet, dann als Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge genutzt. Die Polizei tappt wieder im Dunkeln. 

Das „gemeinsame Entgegentreten von Staat und Gesellschaft“, dass von der Polizei so schön zitiert wird, gegen die offenbar ausländerfeindlich motivierten Straftaten kondensiert am Samstagnachmittag staatsseitig in einer dürren Pressemitteilung aus dem sachsen-anhaltinischen Innenministerium: „Ich verurteile diesen feigen und hinterhältigen Anschlag. Wir werden alles daran geben, den oder die Täter zu ermitteln und einer gerechten Strafe zuzuführen“, erklärt Holger Stahlknecht (CDU). 

Dass Wahlkampf ist in Sachsen-Anhalt, bemerkt man spätestens jetzt. „Ich bin entsetzt über die Schüsse auf die geplante Unterkunft für Geflüchtete in Gräfenhainichen. Diese abscheuliche Tat schürt ein Klima der Angst und versucht die Stimmung im Land weiter gegenüber Geflüchteten zu vergiften“, erklärt Claudia Dalbert, Spitzenkandidatin der Grünen. Und sie tritt nach: 

„Alle Menschen müssen sich auf den Schutz vor Kriminalität und gewaltbereitem Rassismus in Sachsen-Anhalt verlassen können. Diesem Anspruch muss die Landesregierung gerecht werden und die Eskalation der Gewalt beenden, statt nach bundespolitischen Schlagzeilen zu haschen.“

Staatsschutz ermittelt gegen unbekannt

Der polizeiliche Staatsschutz hat unterdessen die Ermittlungen gegen unbekannt - wieder einmal - aufgenommen. Er wird, so vermeldet es Polizeisprecher Ralf Moritz, bei der Tatortuntersuchung von Spezialisten des Landeskriminalamtes des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt.

Die Staatsanwaltschaft und die Polizei bitten daher alle Zeugen, die Hinweise zur Aufklärung des Tatgeschehens geben können, sich bei der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost unter Tel. 0340 / 6000-291 oder per E-Mail an [email protected] zu melden. (mz)