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60 Jahre NVA 60 Jahre NVA: Warum ein ehemaliger Offizier sich nicht beklagt

Von Steffen Könau 26.02.2016, 07:24
Erinnerungen unterm Dach: Wolfgang Grenzebach im Traditionskabinett.
Erinnerungen unterm Dach: Wolfgang Grenzebach im Traditionskabinett. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Immer Ende Februar taucht der straffe, aufrechte Herr mit den vollendeten Umgangsformen in der Anzeigenannahme auf, in der Hand ein sorgfältig beschriebenes Papier. „Allen Ehemaligen meinen Glückwunsch“, steht in zackigen Buchstaben darauf. Oder „wir haben einer besseren Sache gedient“. Oder auch „Ab heute wieder Schirmmütze!“

Meist hat Wolfgang Grenzebach Glück und seine Anzeige wird angenommen. Manchmal klappt es aber auch nicht. Dann mäkelt jemand, weil Grenzebachs Annonce „Gediente in fremden Streitkräften“ grüßen will. Oder dass er mit „Oberstleutnant a.D.“ unterschreibt. „NVA-Offizieren ist das verboten, im Unterschied zu Wehrmachtssoldaten“, knirscht der Mann, der sich sein a.D. für „außer Dienst“ gleich 1990 trotzig im Telefonbuch hat eintragen lassen.

Grenzebachs Mission

Grenzebach, 69 und vom Habitus eine Mischung aus Heinz-Florian Oertel und Wolfgang Schäuble, nimmt Widerstand sportlich. Der Hallenser ist unterwegs auf einer Mission, seit zweieinhalb Jahrzehnten schon. Ex-Oberstleutnant Wolfgang Grenzebach von der 11. Motorisierten Schützendivision, Standort Halle, möchte, „dass nicht vergessen wird, dass hunderttausende DDR-Bürger die Uniform der NVA getragen und damit den Frieden in Europa gesichert haben“.

Grenzebach selbst war ein Vierteljahrhundert einer von ihnen, erst als Soldat, dann als Leutnant, schließlich als Kompaniechef und am Ende als Stabsoffizier, der dem Zusammenbruch all dessen zuschaut, was sein Leben ist.

Ein Leben, das sich der Lehrersohn aus Tilleda selbst ausgesucht hatte - im Unterschied zu den meisten anderen jungen Männern, mit denen er an einem trüben und regnerischen Novembertag des Jahres 1965 vor der Kaserne in der halleschen Paracelsusstraße Abschied vom Zivilleben nimmt. „Um meine Mitschüler wurde ständig geworben“, schildert Grenzebach seinen Weg in die damals noch keine zehn Jahre alte Nationale Volksarmee. Er aber, kein Arbeiterkind, sondern Sohn eines Geschichtslehrers, wird links liegengelassen. Die NVA soll schließlich die Armee des Proletariats sein, eine Waffe im Klassenkampf, in der Arbeiter kämpfen.

Familie Grenzebach zählt in der streng geordneten kleinen DDR-Welt zur sogenannten Intelligenz. Und deren Angehörige sind nicht erste Wahl für die Besetzung der jungen Nationalarmee der halbierten Nation. Grenzebach sieht gnatzig vor Neid, „was für Schlaffis die eingezogen haben“. Und eines Tages fühlt er sich dann so zurückgesetzt, „dass ich hingegangen bin und gefragt habe, was mit mir ist“.

Wie die NVA im Haus des ehemaligen Offiziers weiterlebt, obwohl Grenzebach schon früh bemerkt, wie Anspruch und Wirklichkeit der DDR-Realität auseinanderdriften, lesen Sie auf der nächsten Seite.

In der DDR-Armee zu Hause

Es ist der Anfang einer langen Beziehung, die durchaus Liebe genannt werden darf. Wolfgang Grenzebach findet in der DDR-Armee, die von der DDR-Jugend wegen der Farbe der Uniformen abfällig die „Asche“ genannt wird, einen Ort, an dem er sich zu Hause fühlt. Der schmucke Teenager mit dem dunkelblonden Haar, belesen und sportlich, hat hier, was er sucht: Eine Gemeinschaft, klare Abläufe, eiserne Regeln, viel Sport. Und dazu eine Aufgabe, die ihm wichtig erscheint. „So lange es uns gab“, sagt er, „war Frieden in Europa.“

Erzählt Grenzebach heute aus seinen Jahren in Uniform, dann wird aus der Knochenmühle, als die Generationen Wehrpflichtiger die NVA erlebten, tatsächlich so etwas wie eine Friedensarmee, die nur schoss und marschierte, um nie schießen und marschieren zu müssen. Grenzebach jedenfalls hat sie so erlebt. Viel Volleyball und Fußball gespielt hätten sie, sagt er, der Drill war Herausforderung, die Sturmbahn „nichts, was uns junge Kerle nervös machte“.

Sprungfedergespannt sitzt er auf einem Stuhl im Dachgeschoss seines Hauses, das mit Schaufensterpuppen in Uniform, Orden, Wimpeln und Fähnchen ganz der Erinnerung an jene Zeit gewidmet ist. 26 Jahre ist die NVA Geschichte, genau so lange, wie Grenzebach ihre Uniform trug. Und hier nun lebt sie weiter als Truppe, die selbst noch ihre eigene Abwicklung wie befohlen durchgezogen hat.

Grenzebach schwärmt von den Männern seiner Kompanie, von Manövern, in denen sie im Dreck gelegen und von Auszeichnungen, die sie geholt haben. Der Oberstleutnant, dem die alte Uniform bis heute passt, zweifelt all die Jahre im grauen Rock nie daran, auf der richtigen Seite zu stehen.

Im Westen sitzen die Kapitalisten und Kriegstreiber, das ist für ihn klar. Der Warschauer Pakt hingegen ist das Bollwerk gegen den Imperialismus eine Friedensmacht, die ihren Krieg im Innendienst führt. „Jeder Tag ohne einen Schuss war ein Sieg für uns“, sagt Grenzebach. Sein Vater hat nach dem II. Weltkrieges in einem Gefangenenlager auf den mörderischen Rheinwiesen gesessen. „Eine Wiederholung dieses Grauens zu verhindern“, sagt der Sohn, „war unsere Aufgabe.“

Grenzebach hat sie ernst genommen. Er entwickelt ein Faible für Geschichte, er liest sich quer durch die Weltliteratur, er ist eine der allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten, aus der die NVA wenigstens ihrem Selbstbild nach durchweg besteht. Doch Grenzebach ist auch ein zu kluger Kopf, um nicht zu bemerken, wie Anspruch und Wirklichkeit der DDR-Realität auseinanderdriften. Wenn er Nachwuchs für die NVA wirbt, sagen ihm Betriebsdirektoren ins Gesicht: „Wenn du uns drei Mann wegholst, können wir zumachen.“ Wolfgang Grenzebach sagt, er habe das einordnen können: „Die Widersprüche wurden größer, aber das war natürlich auch Ergebnis der bösartigen Konfrontation, in die der Westen uns gezwungen hat“.

An dieser Grundprämisse lässt der Mann, der mit seiner „Frau und Kampfgefährtin“, wie er sagt, seit vielen Jahren in Halle lebt, bis heute nicht rütteln. Grenzebach, der im Fall einer Mobilmachung für den 3. Weltkrieg Chef eines Ersatzregimentes der 11. Mot.-Schützendivision gewesen wäre, sieht die Pläne mit der Strategie der NVA noch vor sich: „Wären wir angegriffen worden, hätten wir zurückgeschlagen“, sagt er, „aber von uns aus angegriffen hätten wir nie“.

Warum Grenzebach nach zehn Monaten als Stellvertreter des aus dem Saarland nach Halle versetzten neuen Chefs der 11. MSD den Dienst quittiert hat, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Der große Sieg der NVA

Dass auch die Nato dieser Ansicht war, steht für ihn fest. „Die sind jeden Freitag ins Wochenende, weil sie wussten, dass wir nicht kommen.“ Andersherum war das Vertrauen weitaus geringer. „Wir hatten 85 Prozent Bereitschaftsquote, das waren brutale Bedingungen.“ Aber in der DDR sei man eben fest überzeugt vom aggressiven Charakter der Nato gewesen. „Nur dass wir da waren, führte dazu, dass niemand sich herausgewagt hat.“ Nie gekämpft zu haben, das halte er bis heute für den großen Sieg der NVA, sagt Grenzebach stolz. „Wir sind die einzige deutsche Armee, die das geschafft hat.“

Von den weitergehenden Unterschieden hat sich Wolfgang Grenzebach in den letzten Monaten seiner Militärlaufbahn dann selbst noch ein Bild gemacht. Nach den letzten NVA-Wochen, die er heute nach dem damaligen DDR-Verteidigungsminister „das Eppelmannsche Chaos“ nennt, bekommt er das Angebot, das geliebte Grau aus- und das Oliv des Gegners anzuziehen. Wolfgang Grenzebach sagt ja. Er sei bloß neugierig gewesen, sagt er, „die zeitweiligen Sieger der Geschichte von Nahem zu sehen.“

Deren Schnürschuhe habe er durchaus schätzen gelernt, sagt er mit demonstrativer Distanz. Auch die Armee an sich sei besser als ihr lädierter Ruf. Den hält der an Lenin geschulte Offizier, der in den letzten Jahren sowohl mit DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler als auch mit Ex-Bildungsministerin Margot Honecker per Brief konferierte, bis heute für Tarnung. „Der militärisch-industrielle Komplex sorgt schon dafür, dass die Armee für seine Zwecke einsatzbereit ist.“

Grenzebach selbst war es nach zehn Monaten als Stellvertreter des aus dem Saarland nach Halle versetzten neuen Chefs der 11. MSD nicht mehr. Das ist nun nicht mehr seine Armee, sagt sein Gefühl, und die große Aufgabe mit dem Frieden ist ja auch weg. Grenzebach nutzt seine letzten Wochen, um Ausrüstungsreste der NVA vor der Müllhalde zu retten. „Ich habe alles zu mir nach Hause fahren lassen“, schmunzelt er, „heute könnte ich die ganze Straße einkleiden.“

Das Arbeitsamt hat dem Oberstleutnant a.D. nach seiner Entlassung eine Ausbildung zum Wachmann bezahlt. Seine erste Stelle tritt Wolfgang Grenzebach bei der Treuhand an. „4,50 Mark die Stunde“, sagt er, ohne dass es nach Jammern klingt. Grenzebach findet, dass es ihm gutgeht. Nein, er könne und werde nicht klagen. Auch finanziell habe es ja immer für alles gereicht. Sogar für die alljährliche Glückwunschanzeige an die ehemaligen NVA-Genossen. (mz)

NVA-Soldaten in Halle: www.nva-interessengemeinschaft-halle.com