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Forscher Thomas Kliche Forscher Thomas Kliche: Globalisierungsschock bringt das Ende der Gemütlichkeit

25.02.2016, 07:25
Globalisierung: Studenten in Kalkutta bei einem Friedensmarsch in Gedenken an die Opfer des Terroranschlags in Paris.
Globalisierung: Studenten in Kalkutta bei einem Friedensmarsch in Gedenken an die Opfer des Terroranschlags in Paris. archiv/dpa

Halle (Saale) - Die Flüchtlingsdebatte spaltet nicht nur die Parteien, sondern auch die Gesellschaft. Über schmerzhafte Einsichten, verängstigte Politiker und erfolgreiche Integration sprach MZ-Redakteur Christian Schafmeister mit dem Psychologen und Politikwissenschaftler Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Herr Kliche, Sie sprechen mit Blick auf Terroranschläge, Griechenlandkrise, Syrienkonflikt, Klimawandel, Flüchtlingen und TTIP von einem Globalisierungsschock, der über uns gekommen ist. Was löst der aus?

Kliche: Grundsätzlich bedeutet so etwas für eine Gesellschaft natürlich viel Stress, auf den die Menschen auf unterschiedliche Weise und unterschiedlich schnell reagieren. Es gibt aber drei grundlegende Muster. Die einen Menschen wollen aktiv werden, die Probleme anpacken und bewältigen - etwa bei der Unterstützung von Flüchtlingen. Andere greifen auf einfache und billige Erklärungsmuster zurück. Und die dritte Gruppe leugnet einfach den Veränderungsbedarf und gaukelt sich vor, dass letztlich alles beim Alten bleibt. Das funktioniert natürlich nicht.

Die Veränderungen der vergangenen Monate waren enorm. Wie lange wird es dauern, bis die Gesellschaft all dies verarbeitet und verdaut hat?

Kliche: In der Vergangenheit sind politische Ängste nach spektakulären internationalen Ereignissen immer schnell explodiert und nach ein bis zwei Jahren wieder verschwunden. Das kann dieses Mal länger dauern, weil wir eine Periode von zehn Jahren politischer Stagnation hinter uns haben und uns plötzlich die Probleme der Welt auf die Füße fallen. Den Kopf in den Sand zu stecken, bringt jedoch nichts, dann werden die Risiken noch größer.

Bei den erforderlichen Veränderungen ist auch die Politik gefragt. Doch die Spitzenkandidaten sind vor den Landtagswahlen sehr nervös oder tauchen gar ab. Ist es nicht ein schlechtes Signal für eine Demokratie, wenn Politiker Angst vor einer Wahl haben?

Kliche: Ja natürlich, aber mit der Stagnation der letzten Jahre haben sie das ja auch verdient. Weitsichtige Pläne, Orientierung und Initiative waren nicht gerade die Markenzeichen der Regierung. Viele Politiker bekommen jedoch jetzt auch ganz ungerecht die Wut und Verzweiflung ab, die das Ende der alten Gemütlichkeit bei vielen ausgelöst hat. Der psychologische Kontrakt bis August 2015 war ja: alles ruhig, alles wird gut, Mutti richtet das schon, macht mal keine großen Pläne. Aber große Pläne zu machen, ist die Kernaufgabe der Parteien.

Sehen Sie die Versäumnisse denn nur in der Politik oder haben wir als Gesellschaft generell verlernt, große Themen vernünftig zu erörtern?

Kliche: Ja, das haben wir leider. Die Forschung spricht schon von einer Spät- oder Untergangsphase der Demokratie, weil die Leute lieber dreimal im Jahr Urlaub machen oder Dschungelcamp schauen, als sich auch nur mit den einfachsten Grundlagen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu beschäftigen. Kollektive Bequemlichkeitsverblödung fällt aber jeder Gesellschaft irgendwann auf die Füße - es wird immer anstrengender, für vernünftige Lösungen Unterstützung zu erhalten.

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Kliche: Zunächst einmal gilt es, sich den Befund einzugestehen. Wir haben verlernt, die wichtigen Fragen ernsthaft zu stellen und Lösungen zu suchen. Wir haben vergessen, dass Frieden, Freiheit und Demokratie keine Konsumgüter sind, sondern Werte, die wir bei aller Veränderung mit gemeinsamer Anstrengung zu erhalten gilt.

Und wie geht es nun weiter?

Kliche: Die neuen Realitäten zwingen uns, eigene Ansichten zu hinterfragen, das ist schmerzhaft, kann aber auch eine Chance für eine Neuausrichtung sein, wenn wir die globalisierte Welt stärker im Auge behalten und die Herausforderungen richtig einordnen. Ganz konkret: Wenn wir schon nicht mit den Flüchtlingen klarkommen, wie wollen wir dann mit den Folgen des Klimawandels fertig werden?

Die Debatten bestimmen aber gerade der Mob, der in Sachsen Flüchtlinge anpöbelt und die AfD, die in Umfragen immer mehr Zustimmung erfährt.

Kliche: Wer sich je über die Qualität von Berufspolitikern beschwert hat, findet bei der AfD reiches Anschauungsmaterial. Es ist schwer vorstellbar, dass solche Menschen sinnvolle Politik machen, auch in der Vergangenheit hat das nicht geklappt. Und spätestens, wenn es um die harte Arbeit an wirklich machbaren Lösungen geht, werden die sich ohne Ende blamieren. Nein, es wird niemand abgeschrieben, aber wir können uns keine blöde Politik leisten, das werden die Menschen einsehen. Die AfD ist ein vorübergehendes Stoffwechselprodukt der Geschichte.

Dennoch sehen auch breite Teile der Gesellschaft Flüchtlinge als Problem, nicht als Chance. Auch ein Ergebnis des Globalisierungsschocks?

Kliche: Nein, das war früher genau so. Als die ersten Italiener in die alte Bundesrepublik kamen, gab es auch blöde Witze über Pizza und Messerstechereien. Es hat eine Generation gedauert, bis Pizza zur Normalität geworden ist. Menschen haben evolutionär eine hohe Aufmerksamkeit für schlechte Nachrichten entwickelt, für Vereinfachungen, für mögliche Bedrohungen - Vorsicht, Höhlenbär!

Ein Phänomen, das in Deutschland besonders ausgeprägt ist?

Kliche: Nein, ganz im Gegenteil! Deutschland hat viele Einwanderungswellen sehr gut gemeistert und hat Erfahrung mit guten Lösungen. Zum Beispiel gibt es hier kaum heruntergekommene Wohnviertel für kulturelle Minderheiten wie in Frankreich. (mz)