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Ein "Wessi" erzählt Ein "Wessi" erzählt: Als die Glücksritter die untergehende DDR entdeckten

Von Steffen Könau 21.02.2016, 13:34
Finanzvertriebler und Gebrauchtwagenhändler waren vor einem Vierteljahrhundert die ersten, die auf dem neuen Markt im Osten ihre Claims absteckten - Michael Saubert war unter ihnen, aber anders.
Finanzvertriebler und Gebrauchtwagenhändler waren vor einem Vierteljahrhundert die ersten, die auf dem neuen Markt im Osten ihre Claims absteckten - Michael Saubert war unter ihnen, aber anders. privat

Letztes Jahr im Herbst ist es wieder passiert. Michael Saubert war mit seiner Frau zu Gast bei einer Hochzeit in Leuna, gar nicht so weit weg von Halle, der Stadt, in der er die abenteuerlichsten Jahre seines Lebens verbracht hat. „Und da fragt doch einer der Gäste meine Frau, wie es denn so ist, mit einem Ossi verheiratet zu sein.“

Der ganze Tisch lacht, auch Saubert amüsiert sich. Schließlich ist der Sohn eines aus Sachsen stammenden Ehepaares als waschechter Wessi in Hannover großgeworden. „Meine Eltern haben die DDR schon in den 50ern verlassen“, erzählt er, „für meinen Vater war das dann immer nur die sowjetische Besatzungszone.“ Und für den Sohn über 30 Jahre lang ein fernes, fremdes, anderes Land.

Zwei Stunden mit dem Auto, aber weiter weg als der Mond. Bis zu diesem Herbsttag im Jahr 1989, als Saubert, der sein Architekturstudium mangels Berufsperspektive gerade hat sausen lassen und nun als Finanzberater arbeitet, morgens im Radio von der Grenzöffnung hört. „Dass man nun so einfach in die DDR rüberfahren konnte, das hat mich elektrisiert.“

Ganz zufällig ist es Halle, wohin es den 29-Jährigen verschlägt. „Schon unterwegs in Bernburg war alles anders, als ich es kannte“, erinnert er sich, „Trotz des blauen Himmels schien alles grau zu sein, die Fassaden, die Autos, die Menschen.“ Auch Halle, erreicht nach einer Schlingerfahrt über Kopfsteinpflaster, verzaubert den neugierigen Neuankömmling nicht. Trabis knattern herum, die Neustadt ist eine Wüste aus Beton. Michael Saubert, den alle nur Zaubi nennen, sieht es bröckeln, er atmet die blauen Abgaswolken und schmeckt den Kohlenqualm der Öfen.

Aber irgendwie ist es auch spannend. Es riecht nach Veränderung, ein Aroma von Chancen und Geld liegt in der Luft. Als die D-Mark dann in den Osten kommt, fährt Zaubi Saubert ihr einfach hinterher. „Das konnte keiner meiner Freunde verstehen, freiwillig in den Osten“, erzählt er. Und dann noch Halle! „Wie kannst Du nur in dieses Drecksloch ziehen“, hieß es. „Wörtliches Zitat“, erinnert sich Saubert ein Vierteljahrhundert danach. Er hat sich damals nicht beirrren lassen. Zaubi stürzt sich Hals über Kopf in sein ostdeutsches Abenteuer. Es sind die Zeiten der schnellen Mark, der Roßtäuscher und Gebrauchtschrotthändler, die die neuen Mitbürger schneller abzocken, als die sich über ihre Schnäppchen freuen können. Michael Saubert würde auch gern gut verdienen, obwohl er sich nicht als Eroberer, sondern als Entdecker sieht. So viele Dinge des Alltages sind hier anders! Die Gebräuche, die Sprache! Dieses „dreiviertel acht“ statt Viertel vor! Er habe gebraucht, die Logik zu verstehen, sagt er. Und dann dieser seltsame Satz, mit dem sich Hallenser gegenseitig erzählen, sie seien irgendwo „hingerammelt“. Saubert, heute 55, muss immer lachen. Hingerammelt!

Es sind schwere, schöne Jahre, die Zaubi im Osten hat. So viele Möglichkeiten und so viel Herzlichkeit, mit der die Menschen ihm begegnen. Saubert staunt manchmal noch in der Erinnerung daran. Nicht alles, was er sich beruflich erträumt, klappt, obwohl am Anfang Schecks mit fünfstelligen Abrechnungsbeträgen eintrudeln. Saubert wohnt erst zur Untermiete bei einer Freundin, dann in einem besetzten Haus. Schließlich schafft er es, die größte Wohnungsgesellschaft der Stadt zu überreden, ihm und seiner Freundin einen Mietvertrag für eine abrissreife Villa am Rannischen Platz zu geben. Dort regnet es rein und die Handwerker kommen nicht.

Der alte Osten, wie er leibt und lebt. Hier wird der Traum vom schnellen Geld ebenso schnell ausgeträumt wie der von der flotten Karriere. Glücksritter Zaubi muss erkennen, dass er sich nicht recht eignet, andere über den Löffel zu balbieren. „Dazu hätte ich mich einfach mehr verbiegen und mehr Schwein sein müssen.“

Trotzdem entscheidet Michael Saubert, „dass ich mich ganz auf Halle einlassen will“. Während er beruflich scheitert, weil es ihm an Skrupellosigkeit gebricht, unnötige Verträge an arglose Neubürger zu bringen, lernt er seine neuen Nachbarn und Bekannten schätzen. „Bei uns im Westen lebte jeder hinter seiner hübsch rausgeputzten Fassade, immer nach dem Motto, meine Kinder, mein Auto, mein Haus“, sagt er. Im Osten habe „eine ganz andere Offenheit und Herzlichkeit“ geherrscht. „Das machte den großen Unterschied aus.“

Dazu das abenteuerliche Nachtleben, die alternativen Kneipen und Klubs und der anfängliche Mangel an Gesetzen und Vorschriften. Michael Saubert, ein Kind der durchregulierten Gesellschaft West, findet im Osten sein Eckchen Anarchie. Misstrauisch sieht er die anderen Neuankömmlinge: Investoren in dicken Limousinen, „adrett im Abzug, die das Terrain sondierten“. Die Treuhand ist das große Thema, die Arbeitslosenquote steigt und die eben noch so euphorische Einheitsstimmung sinkt. Erst in dieser Zeit habe die Unvoreingenommenheit dem „Wessi“ im Allgemeinen gegenüber einer größeren Vorsicht Platz gemacht. „Die Leute merkten, dass nicht alles Gold war, was glänzte“, glaubt Michael Saubert. Sein Vorteil sei da aber schon gewesen, dass er selbst für einen Ossi gehalten wird. „Mancher reagierte total erstaunt, wenn ich dann sagte, dass ich von drüben komme.“

Saubert hat irgendwann beides. Er geht mit dem Blick des erfahrenen Westdeutschen durch die neue Heimat Ost. Versteht aber auch die Perspektive des Ossis, der sich durch ABM-Maßnahmen hangelt, schlecht bezahlte Jobs bei echten Glücksrittern findet und sie am Ende verliert, weil er sich nicht ausreichend dankbar zeigt für die Gnade, für ein Lehrlingsentgelt wie ein Geselle arbeiten zu dürfen. Zu Besuch bei den Eltern wird Michael Saubert zum Mittler zwischen Ost und West. „Wenn mein Vater sagte, dass die Ossis undankbar sind, habe ich meine Sichtweise dagegengestellt.“ 

Eine, an der er bis heute festhält. Es war nicht alles gut. Aber das meiste. Für ihn selbst sowieso. Der Umweg über den Osten hat Michael Saubert schließlich doch noch sein Architekturstudium beenden lassen, er hat dann Häuser geplant und gebaut, erste schlechte Osterfahrungen gemacht - „in Magdeburg“, wie er betont - und ist der Liebe wegen eines Tages doch wieder im Westen gelandet. Ganz weit hinten, in Gelsenkirchen, weil dort das Elternhaus seiner Frau steht. Saubert ist aber wenig zu Hause, weil er inzwischen meist mit einem Wohnmobil rund um die Welt reist und wie derzeit gerade in Marokko nach neuen Abenteuern sucht.

Ein ganz großes wartet nach der Rückkehr zu Hause in Deutschland auf den Wessi, der in Halles wildesten Jahren zum Ossi wurde und in jenen „intensiven Tagen“, wie er sagt, an der Saale Freunde fürs Leben gefunden hat. Denn es ist Zeit für eine Rückkehr, hat Michael Saubert beschlossen, Zeit für eine Wiedervereinigung mit der alten Liebe. Im Herbst ist es soweit. Saubert lacht. „Ja, wir ziehen zurück nach Halle.“ (mz)