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Reformation Reformation: "Weltdokument" Luthers in Dessau vorgestellt

Von günter kowa 29.01.2016, 07:37
Sigismund Reichenbachs Mitschrift der Luther-Vorlesung zum Römerbrief ist in Dessau zu sehen.
Sigismund Reichenbachs Mitschrift der Luther-Vorlesung zum Römerbrief ist in Dessau zu sehen. Lutz Sebastian Lizenz

dessau-rosslau - Es ist noch nicht lange her, da wachten die Dessauer auf und erfuhren, dass sie in oder nahe ihrer Stadt noch ein Weltkulturerbe mehr beherbergen, neben dem Bauhaus und dem Wörlitzer Gartenreich. Die Aufnahme eines Schriftstücks der Anhaltischen Landesbücherei ins noch recht junge „Weltdokumentenerbe“ der Unesco im Oktober vergangenen Jahres, auch „Gedächtnis der Welt“ oder „der Menschheit“ genannt, kam deshalb für die Öffentlichkeit so überraschend, weil der Antrag dazu drei Jahre lang in strikter Geheimhaltung ablief.

Das war aber keine Maßnahme, das Schreckgespenst Icomos zu umgehen, die Denkmalschutzorganisation, die den viel beworbenen Anträgen Halles und Naumburgs in die Quere kam. Auch zu Verschwörungstheorien besteht kein Anlass. Vielmehr hatten sich mehrere Kulturinstitutionen unter der Ägide des Leibniz Instituts für Europäische Geschichte in Mainz zusammengetan, um 14 verschiedene Dokumente unter dem Oberbegriff „Meilensteine der Reformation“ gemeinsam vor die Unesco zu bringen. Und da wäre lokalpatriotisches Getrommel nicht hilfreich gewesen. Umso mehr scheint das örtliche Publikum beglückt über den Erfolg des Unternehmens.

Frisch gekürtes Weltdokument

Als die Dessauer Bücherei jüngst zu einer Präsentation ihres frisch gekürten Weltdokuments einlud, war die Nachfrage so groß, dass die Veranstaltung in die Marienkirche verlegt wurde, die bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Das ist erstaunlich viel Interesse an einer mit kaum leserlichen Notizen übersäten Druckschrift der frühen Neuzeit, die außerdem in einem Sammelband eingebunden ist. Das Dessauer Interesse erklärt sich auch damit, dass Herzog Georg von Anhalt-Dessau einst diesen Band für seine Bibliothek kaufte.

Das Weltinteresse liegt darin, dass das Schriftstück einen Einblick in den Verlauf von Luthers „Reformatorischer Wende“ verschafft, handelt es sich doch um dessen Römerbrief-Vorlesung vom Sommer 1515 bis Herbst 1516 in der Mitschrift des sonst fast unbekannten Studenten Sigismund Reichenbach. Der wurde Zeuge von Luthers sich entfaltender Rechtfertigungslehre, begrenzt vorerst auf eine akademische Öffentlichkeit.

Bevor Luther nach dem Paukenschlag der Ablassthesen die spätmittelalterliche Glaubenswelt in Frage stellt, indem er die „Rechtfertigung des Menschen vor Gott aus dem Glauben allein“ postuliert, ist es die stille Arbeit an den Vorlesungen an der Wittenberger Universität, die den Augustinermönch und Doktor der Bibelauslegung zwischen 1513 und 1517 „Schritt für Schritt“ dieser Erkenntnis näher bringt. So beschrieb es in der Marienkirche der Leipziger Theologe Ernst Koch, der mit seinem Tübinger Kollegen Ulrich Köpf (beide emeritiert) die Unesco-Bewerbung für das Dessauer Schriftstück ausarbeitete – und sie beide gemeinsam appellierten an die Stadt, den Ruf nach einer Text-Edition der Mitschrift zu unterstützen.

Wie Luthers Weg zur Erkenntnis tatsächlich ablief, ist immer noch eine heiße Kartoffel der Reformationsforschung. Luther selbst hat nahe am Lebensende in dem „Großen Selbstzeugnis“, und davor in den „Tischreden“, von dem Durchbruchs-Erlebnis gesprochen, das er in seinem Studierzimmer im Turm des Wittenberger Klosters (oder auf der „Cloaca“) gehabt haben will.

Römerbrief in Latein in großen Zeilenabständen und mit viel Rand

Da soll ihm Gott beim Ringen mit Paulus’ Brief an die Römer „die Türen ins Paradies“ aufgestoßen haben, als er beim Vers „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ erkannte, dass Gott dem Sünder barmherzig ist auch ohne „gute Werke“, sondern „allein aus dem Glauben“. Wissenschaftler wollen heute eher einen allmählichen Prozess sehen, durchaus mit manch Vor und Zurück, auch wenn einzelne Aha-Erlebnisse denkbar bleiben.

Auf dem Dessauer Schriftstück ist der Römerbrief in Latein in großen Zeilenabständen und mit viel Rand abgedruckt. So konnte der Student Sigismund notieren, was Luther in seiner Vorlesung sagte, oder eigentlich, wie es damals üblich war, mitschreiben, was er diktierte. Schmunzeln lässt eine Bemerkung auf dem Titelblatt, die auf Unruhe vor Vorlesungsbeginn hindeutet: „Attendite, o yr mistschweyn“ („Gebt acht, oh ihr Mistschweine!“). Dann aber geht es sehr gelehrsam zu, mit Notaten auf Latein, gelegentlich Deutsch, und hier und da sogar Griechisch.

Spannend wird es, wenn man die Mitschrift mit Luthers eigenem Vorlesungsmanuskript vergleicht. Das Original, ursprünglich aus der Königlichen Bibliothek in Berlin, liegt seit Kriegsende in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau, abgedruckt ist es in der Weimarer Luther-Ausgabe. Über die Unterschiede in dem was Luther dachte, und was er den Studenten sagte, hätte man an dem Abend in der Marienkirche durchaus mehr erfahren dürfen. Die Mühe wird sich kaum jemand machen, die Dissertation der Hamburger Theologieabsolventin Gabriele Schmidt-Lauber zu eben diesem Thema durchzulesen, die in der Buchveröffentlichung von 1994 auch in der Landesbücherei ausliegt. Aber es lohnt sich. Denn Luther, stellt die Forscherin fest, sorgte sich offenbar ums Seelenheil seiner Studenten und vermied öffentliches Aufsehen.

Luther formulierte im Manuskript viel Kritik an kirchlichen Missständen, der Unwürdigkeit und Überheblichkeit von Predigern etwa, daneben auch schon Polemik an den Juden. In der Vorlesung mildert er das alles sehr ab, ja er warnt die Studenten sogar, nachzuplappern, was er sich allenfalls als Universitätsprofessor leisten kann.

Und während er im Manuskript die These von der Rechtfertigung allein im Glauben schon sehr weit trieb, kam in der Vorlesung nur, wenn auch zugespitzt, die Ablehnung der Werkgerechtigkeit vor. Luthers Studenten hätten schon Hellseher sein müssen, um zu erahnen, was er 1517 mit den Ablassthesen, und mit allem was folgte, vom Zaun brechen würde.

Die Römerbrief-Vorlesung ist bis zum 2. Febr., Mo, Di, Do und Fr 10-18 Uhr, in der Wissenschaftlichen Bibliothek Dessau, Zerbster Straße 35, zu sehen. (mz)