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Diskussionsveranstaltung in Wittenberg Diskussionsveranstaltung in Wittenberg: Im Fesselballon

Von Irina Steinmann 27.01.2016, 15:44
Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos) sprach bei der Veranstaltung im Alten Rathaus.
Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos) sprach bei der Veranstaltung im Alten Rathaus. Klitzsch Lizenz

Wittenberg - Sie müssen draußen bleiben. So steht’s auf einem Zettel an der Tür zum Ratssaal, und wer nicht lesen kann, muss fühlen. Bei manchen macht sich Unbehagen breit, als die Polizei auf Wunsch der Veranstalter eine Handvoll Rechtsextremisten aus dem Saal entfernen soll. Wenn die „Jungs brav sind“, protestiert ein Flüchtlingshelfer aus dem Orient, dann sollen sie doch bleiben dürfen! Ja, da klatscht sogar der Nazi. Dass die „Jungs“ aber bestimmt nicht vorhatten, „brav“ zu sein, wird deutlich, als sie zum Abschied einen derben Fluch ins Publikum schicken. „Ihr F...!“ So beginnt am Dienstagabend in Wittenberg die Veranstaltung „Ich bin kein Rassist, aber...“ mit Verzug. Die Stadtgesellschaft möchte sich verständigen über den Umgang mit Populisten und Extremisten, die auf der Flüchtlingswelle ihr braunes Süppchen kochen.

Weil man als Demokrat seine Gegner kennen sollte, haben sich die Veranstalter drei Experten eingeladen, den halleschen Politologen und Parteienforscher Everhard Holtmann, seinen jüngeren Kollegen Stefan Thierse aus NRW und Jan Burghardt von „GegenPart“, dem mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt. Akribisch sezieren Holtmann und Thierse die politischen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und des (Rechts-)Populismus und hier insbesondere auch die Alternative für Deutschland, kurz AfD, die im Saal bleiben darf und der für die bevorstehende Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 13. März bekanntlich ein zweistelliges Ergebnis prognostiziert wird.

Nachzügler Deutschland

Mit der AfD, so Thierse, schließt Deutschland quasi zu seinen Nachbarstaaten auf, wo Rechtspopulisten wie Le Pen oder Haider schon ab den späten 1980ern reüssierten. Mit dem antieuropäischen Euro-Thema habe die AfD zunächst eine „Angebotslücke“ im Parteiensystem gefunden und setze nun auf die „Angst vor sozialem Abstieg und ,Überfremdung’“. Die Partei befinde sich derzeit allerdings in einem „strategischen Dilemma“: „Mäßigung“ würde sie „entbehrlich“ machen, eine „Radikalisierung“ Richtung Rechtsextremismus rücken. Dass sie 2017 auch „in den Bundestag einzieht, ist keineswegs ausgemacht“, so Thierse.

Eine „Schnittmenge“ zwischen AfD und Rechtsextremisten hat Jan Burghardt ausgemacht, er verweist auf geduldete Nazi-Gäste bei AfD-Demos. Burghardt zeichnet ein düsteres Bild von der Situation in der Region. Angesichts des hohen Anstiegs rechtsextremistischer Straftaten 2015 sei es „nur eine Frage der Zeit, bis auch Menschen zu Schaden kommen“. Im Landkreis treiben Burghardt zufolge inzwischen ein halbes Dutzend einschlägiger Zusammenschlüsse ihr Unwesen, ihr einziges Thema sei „Flucht und Asyl“.

Holtmann hat seine Zuhörer zuvor zu einer Reise im „Fesselballon“ eingeladen - von oben sieht man besser, was Populismus ausmacht: das Oben-Unten-Schema, hier „der kleine Mann“, das „einfache Volk“, dort „die Bonzen“, das Spiel mit der Angst von Menschen vor Statusverlust und die Ausnutzung von Minderwertigkeitskomplexen zum Bau von „Wagenburgen“ - jetzt um Beispiel gegen Flüchtlinge. Ist Populismus im Kern ein „Stilmittel“, das von verschiedenen politischen Richtungen eingesetzt werden kann, so handele es sich bei Rechtsextremismus um ein „Einstellungsmuster“, das auf „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“ basiere, so Holtmann.

Dass es ausgerechnet dort wo weniger Ausländer leben mehr Ausländerfeindlichkeit gibt, nennt sich wissenschaftlich „Kontakthypothese“ - in solchen Gegenden sei es ein „Problem, den Humus der Toleranz zu verankern“, so Holtmann. Nicht ohne Grund führten der Salzlandkreis und, leider auch, Wittenberg das Ausländerfeindlichkeits-Ranking an - wohingegen Sachsen-Anhalts Großstädte auf den letzten Plätzen landen.

Praktischerweise sind unter den Zuhörern im vollbesetzten Ratssaal nicht nur aufgeklärte und empathiefähige Demokraten sondern auch allerlei (rechte) Demagogen, die unfreiwillig als Illustration zu den Vorträgen dienen. Raum für Meinungsäußerungen gibt es in der von der Wittenberger Journalistin Stefanie Hommers moderierten Veranstaltung nämlich reichlich. Dass es dabei eher nicht zu einem Meinungsaustausch kommt, liegt wohl in der Natur der Sache. Wer in einer Veranstaltung über rechten Rassismus etwa das Thema Linksextremismus vermisst, wie mehrfach und teils lautstark geschehen, möchte wohl eher eine Nebelkerze werfen als einen Erkenntnisgewinn für sich erzielen.

Die Lügenpolitik

Die Referenten geben sich in der Diskussion durchaus kämpferisch. „Das ist genau diese Pegida-Tonlage!“, kontert Holtmann die Einlassung eines älteren Mannes, der „gefragt“ hatte, „warum wir von unserer Politik belogen werden“. „Schlimmer und primitiver geht’s gar nicht“, bescheinigt der Parteienforscher dem AfD-Kreischef Dirk Hoffmann mit Blick auf obskure Obergrenzenvorschläge von dessen Partei für Flüchtlingszahlen.

Mit auf dem Podium sitzt an diesem Abend noch ein vierter Mann, Experte aus Erfahrung: Wadim Laiter, Vorsitzender der Magdeburger Synagogengemeinde. Er liefert, auf Wunsch aus dem Publikum, eine handliche Definition von Antisemitismus. Ganz einfach, sagt er, das sei „grundloser Hass gegen Juden“. Laiter sagt auch sonst kluge Dinge. Am Vorabend des 27. Januar kritisiert er bundesdeutsche Gedenk-Routine. Wenn sich Nachfahren der Täter und Opfer mit gesenkten Köpfen gegenüberstehen, könnten sie nicht gemeinsam etwas Neues aufbauen. Auch Vorfahren von Laiter wurden von den Nazis ermordet, damals in der Ukraine.

Sie konnten ja nicht fliehen.