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Multiple Sklerose  Multiple Sklerose : Kranke Zabitzerin darf keine Parkplätze für Behinderte benutzen

Von Doreen Hoyer 27.01.2016, 12:57
Wenn sie einkaufen möchte oder einen Arzttermin hat, ist Wenke Rüdiger auf den Rollstuhlangewiesen.
Wenn sie einkaufen möchte oder einen Arzttermin hat, ist Wenke Rüdiger auf den Rollstuhlangewiesen. Heiko Rebsch Lizenz

Zabitz - Wenn Wenke Rüdiger das Haus verlassen und einkaufen fahren will, kann sie nicht einfach aufstehen und sich anziehen. Zunächst muss sie sich mit ganzer Kraft aus dem Stuhl hochstemmen, dann greift sie nach dem Rollator. Ihr Lebensgefährte Mike Bechmann hilft Wenke Rüdiger dann, ihre Jacke anzuziehen und in den Rollstuhl zu steigen. So geht es dann zum Auto, Bechmann hilft seiner Lebensgefährtin, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.

Wenke Rüdiger aus Zabitz leidet an Multipler Sklerose, kurz MS. Die Krankheit ist Schuld daran, dass die junge Frau ihre Beine kaum noch bewegen kann. „Seit Anfang 2015 kann ich nicht mal mehr alleine stehen“, berichtet die 38-Jährige. Sobald sie das Haus verlasse wolle, sei sie auf den Rollstuhl angewiesen. An schlimmen Tagen brauche sie ihn auch drinnen, dann reiche der Rollator nicht mehr aus.

Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dabei werden die so genannten Markscheiden, eine Schicht der Nervenfasern, angegriffen. Die Ursache der Krankheit konnte bislang nicht zweifelsfrei geklärt werden. Viele Forscher vermuten eine Kombination aus Vererbung und Umwelteinflüssen, die zu einer Fehlreaktion des Immunsystems führen.

Frauen sind von der Krankheit häufiger betroffen als Männer. Meist zeigen sich erste Symptome recht früh, also zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Neben Problemen bei der Bewegung können auch Sehstörungen auftreten. Die Krankheit ist nicht heilbar, kann jedoch therapiert werden, zum Beispiel mit Kortisonpräparaten.

Voraussetzungen nicht erfüllt

Allerdings: Behindertenparkplätze dürfen Wenke Rüdiger und ihr Lebensgefährte nicht benutzen. In einem Bescheid teilte ihnen das Landesverwaltungsamt in Halle im Herbst mit, Rüdiger erfülle nicht die Voraussetzungen, um das Merkzeichen „aG“ zu erhalten. Dieses Zeichen ist aber Bedingung für die Ausstellung des blauen Ausweises, der zum Parken auf Behindertenparkplätzen benötigt wird. Das Merkzeichen „aG“ steht dabei für „außergewöhnliche Gehbehinderung“. Im Bescheid heißt es: „Die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens aG sind nicht erfüllt.“ Dieses sei für Personen, „die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauerhaft nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen können.“ Dazu zählen laut Bescheid zum Beispiel Querschnittgelähmte oder Menschen, denen beide Oberschenkel amputiert wurden - aber nicht Wenke Rüdiger.

Dabei, so Mike Bechmann, habe sogar ein Arzt dem Amt schriftlich empfohlen, Wenke Rüdiger das Merkzeichen „aG“ zu gewähren. Der Mediziner wollte sich der MZ gegenüber jedoch nicht äußern. Auf einen Widerspruch Rüdigers folgte im Dezember ein weiterer Brief vom Verwaltungsamt, in dem der Widerspruch abgewiesen wird. Darin heißt es: „Die Behinderungen liegen nicht in einer solchen Schwere vor, als dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung begründet wird.“ Aus den Befunden gehe schließlich hervor, dass Rüdiger sich mehrere Meter mit Hilfe eines Rollators bewegen könne.

Welche strengen Kriterien für einen Behindertenausweis erfüllt sein müssen, lesen auf Sie auf der nächsten Seite.

Strenge Kriterien

Auf eine Anfrage der Redaktion beim Landesverwaltungsamt antwortete Gabriele Städter von der Stabsstelle Kommunikation: „Bei der Prüfung, ob eine schwerbehinderte Person dem entsprechenden Personenkreis gleichzustellen ist, kommt es darauf an, ob die Inanspruchnahme fremder Hilfe bereits vom ersten Schritt an nach Verlassen des Kraftfahrzeuges notwendig ist und die Person nur mit größten Anstrengungen in der Lage ist, gewisse Wegstrecken zu meistern. Im vorliegenden Fall wurden diese strengen Kriterien nach den uns bisher vorliegenden Befunden nicht als erfüllt angesehen.“

Die Parkplätze mit dem Rollstuhlsymbol nutzen zu können, wäre eine enorme Erleichterung im Alltag des Paares. „Sie sind breiter, da kann ich also mit dem Rollstuhl gut bis zur Autotür fahren“, erklärt Bechmann. Bei normalen Parkplätzen müsse seine Lebensgefährtin oft irgendwie aus dem Auto aussteigen und sich - auf ihn gestützt - ein paar Schritte vorhangeln, ehe sie sich in den Rollstuhl setzen könne. „Das ist nicht nur unpraktisch, sondern gefährlich.“ Den Unterschied kennt das Paar aus Erfahrung. In den vergangenen sechs Monaten konnte es mit einer Ausnahmegenehmigung der Straßenverkehrsbehörde des Landkreises Behindertenparkplätze nutzen. Diese Ausnahmegenehmigung ist allerdings abgelaufen und kann nicht verlängert werden, wie Landkreissprecherin Marina Jank bestätigt. Da Rüdigers Zustand nicht vorübergehend ist, muss sie sich stattdessen um einen dauerhaften Parkausweis bemühen. Dieser wird zwar ebenfalls von der Landkreisbehörde ausgestellt - aber erst, wenn das Landesverwaltungsamt die erforderlichen Merkzeichen und den Grad der Behinderung festgestellt hat. Bei der 38-Jährigen wurde der Grad der Behinderung auf 80 festgesetzt. Das Merkzeichen „aG“ fehlt ihr aber.

Wie sich das Paar nun juristisch wehren will, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Die Diagnose MS erhielt Rüdiger im Alter von 19 Jahren. Das war 1997 - wenige Tage vor der Abschlussprüfung ihrer Bäckerlehre. „Am Anfang fühlte sich mein linker Arm ganz schlapp an und ich dachte, das wäre der Stress“, erinnert sich die 38-Jährige. Doch dann sei ihre gesamte linke Körperhälfte taub geworden. Mittels Physio- und Ergotherapie konnte Rüdiger die Symptome der Krankheit lindern - vorerst. In Schüben sei es dann von Jahr zu Jahr schlimmer geworden, berichtet die Zabitzerin. Ihre Bäckerlehre konnte sie nie abschließen, Rüdiger bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente.

Verfahren beim Sozialgericht

Das Paar will sich mit dem ablehnenden Bescheid nicht zufrieden geben. Es hat sich in der Sache an das Sozialgericht gewandt. Da das Verfahren noch laufe, könne man sich aus Datenschutzgründen nicht weiter zum Fall äußern, so Gabriele Städter.

Wahrscheinlich, erzählt Wenke Rüdiger, komme irgendwann der Tag, an dem sie ohne fremde Hilfe gar nicht mehr aufstehen könne und dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen sei. Sicher vorhersagen lasse sich das aber nicht. „MS wird auch die Krankheit der tausend Gesichter genannt. Sie verläuft bei jedem anders“, erzählt die Zabitzerin. Ihr Lebensgefährte vermutet, dass sie erst dann das gewünschte Merkzeichen erhalten wird, wenn sie den Rollstuhl dauerhaft braucht. „Wahrscheinlich muss es erst soweit kommen, bis man uns hilft.“ (mz)

Um solche Behindertenparkplätze wie hier am Schloss in Köthen nutzen zu können, ist eine Sondergenehmigung erforderlich.
Um solche Behindertenparkplätze wie hier am Schloss in Köthen nutzen zu können, ist eine Sondergenehmigung erforderlich.
Heiko Rebsch Lizenz