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Protest von Flüchtlingen Protest von Flüchtlingen: Was läuft schief bei der Betreuung in Wittenberg?

Von Alexander Schierholz 21.01.2016, 19:27
Am Mittwochnachmittag begann der Protest vor dem Landratsamt.
Am Mittwochnachmittag begann der Protest vor dem Landratsamt. Thomas Klitzsch Lizenz

Wittenberg - Der Mann, nennen wir ihn Karim, steht vor dem Wittenberger Landratsamt in der Januarsonne. Seine Augen sind müde. „In Coswig kann man nicht leben. Dort sind die Betten schlecht und die Toiletten dreckig. Es gibt keine Schränke“, sagt er. Zusammen mit rund 30 anderen Männern aus Syrien protestiert er am Donnerstag vor dem Behördengebäude, den zweiten Tag in Folge. „Wir werden so lange hierbleiben, bis man uns in Wohnungen unterbringt.“ Seinen Namen will er nicht nennen, aus Angst vor noch mehr Ärger mit den Ämtern.

Nun also Wittenberg. Vorige Woche Coswig, wo Asylbewerber wegen der Bedingungen in der Gemeinschaftsunterkunft, ein ehemaliges Lehrlingswohnheim, zeitweise in den Hungerstreik traten. Vor Weihnachten Holzdorf, wo Flüchtlinge in einer Hauruck-Aktion aus einer Mehrzweckhalle nach Naumburg umquartiert worden waren. Und im September vorigen Jahres Griebo. Auch dort hatten Geflüchtete mit einem Hungerstreik gegen ihre Unterbringung in einer Sporthalle protestiert.

Coswig, Holzdorf, Griebo. Alle drei Orte liegen im Kreis Wittenberg. Was läuft dort schief bei der Flüchtlingsbetreuung?

Glaubt man Jürgen Dannenberg: nichts.

Der Wittenberger Landrat und Linken-Politiker, grauer Schnauzer, gemütliche Ausstrahlung, sitzt an einem runden Besprechungstisch in seinem Büro, ein Stockwerk über den draußen protestierenden Männern aus Syrien. Er sagt: „Ich behaupte, es funktioniert.“ Die Männer aus Holzdorf, die erst nach Naumburg und nun nach Coswig gebracht wurden, zu denen auch die Demonstranten vor seinem Amtssitz gehören? „Die wollten doch wiederkommen, weil sie sich hier wohlgefühlt haben.“ Die Flüchtlinge aus Griebo, die im Dezember einen Umzug in den Burgenlandkreis erst mit einer Protestaktion in letzter Minute verhindern konnten? „Die wollten eben hierbleiben, weil es ihnen hier gut geht.“

Wohnungen statt Heim

Dannenberg ist stolz auf das Konzept der sogenannten dezentralen Unterbringung, das der Kreis praktiziert. Das heißt: Flüchtlinge sollen Wohnungen beziehen. Die bislang einzige Gemeinschaftsunterkunft in Möhlau, Plattenbauten mitten im Wald, wurden nach Protesten 2012 geschlossen. Der Landrat räumt allerdings ein, dass der Flüchtlingsansturm im zweiten Halbjahr 2015 den Kreis „überrollt“ habe. Dezentrale Unterbringung wird nun zum Problem. „Leere Wohnungen gibt es nicht im Übermaß.“ Und es dauere eine Zeit, die vorhandenen herzurichten. Deshalb brachte Wittenberg als einziger Kreis im Land Asylbewerber in Mehrzweckhallen unter, in Holzdorf und Griebo. Erst vor Weihnachten wurden sie geräumt, auf Weisung des Innenministeriums. Als Alternative griff der Kreis auf das ehemalige Coswiger Lehrlingswohnheim zurück. Die Kritik daran? „Das ist alles berechtigt.“ Es handele sich aber um eine „Notunterkunft“.

Bei einer geplanten Abschiebung ist ein abgelehnter Asylbewerber in Halle aus dem Fenster gesprungen und hat sich verletzt. Der Mann aus dem Kosovo kam mit Rückenverletzungen in ein Krankenhaus, wie ein Sprecher des Innenministeriums am Donnerstag sagte. Der Fall hatte sich bereits am Dienstag ereignet. Beamte hatten an der Wohnungstür im ersten Obergeschoss geklingelt, um den Mann für die Abschiebung abzuholen. Weil von innen ein Schlüssel steckte, sei ein Schlüsseldienst gerufen worden. In der Wohnung bemerkten die Polizisten laut Ministerium die offene Balkontür und entdeckten den Mann verletzt auf dem Rasen. Es sei zu vermuten, dass er flüchten wollte, sagte der Sprecher. Es handele sich um einen Einzelfall. Der Flüchtlingsrat wertete den Sprung als Verzweiflungstat und kritisierte die Abschiebepraxis. (dpa)

Nicht genügend leere Wohnungen? „Das verstehe ich nicht“, sagt Sven Meffert. Er ist Sprecher des Bündnisses „Wittenberg weltoffen“ und hat sich mal an den Rechner gesetzt. Eine Recherche bei verschiedenen Immobilienportalen ergab: „Es gibt ausreichend bezugsfertige Wohnungen in Wittenberg.“ Auf mehr als 40 ist er gekommen, dann hat er erst einmal aufgehört. „Das war eine Stunde Arbeit.“ Das Bündnis will nun mit der städtischen Wohnungsgesellschaft und der Kreisverwaltung ins Gespräch kommen.

Sören Herbst sieht in Wittenberg „schwerwiegende strukturelle Probleme“. Die Möhlauer Unterkunft sei 2012 erst nach heftigem öffentlichen Druck geschlossen worden, sagt der migrationspolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion. Danach habe der Kreis Flüchtlinge in leeren Wohnungen in Vockerode einquartiert „und das als dezentrale Unterbringung kaschiert“. Aus Sicht von Herbst „ein Etikettenschwindel - in Wahrheit ist das auch bloß eine Gemeinschaftsunterkunft“. Mittlerweile leben in dem Ort mehr als 700 der rund 1?600 Asylbewerber im Kreis.

„Ein besonders schlechtes Beispiel“

Herbst spricht dem Landkreis den Willen zur Integration von Migranten ab. „In anderen Kreisen gibt es auch Probleme, zum Beispiel die lange Wartezeit auf die Anhörung beim Bundesamt für Migration, aber Wittenberg ist ein besonders schlechtes Beispiel.“ Landrat Dannenberg kontert, man sei weit vorangekommen mit der Integration. Er spricht von Arztsprechstunden und Fahrradspenden für die Bewohner der Mehrzweckhallen - bis das Land vor Weihnachten die Räumung angewiesen habe. Damit sei auch ein in Holzdorf geplanter Sprachkurs geplatzt. „Wir setzen nur Vorgaben um“, behauptet er. Vom Innenministerium war gestern keine Stellungnahme zu bekommen.

Vom Hickhack um die Unterkünfte bekommen die Männer vor dem Landratsamt nichts mit. Sie wollen endlich eine Perspektive. „Wir sind seit sechs Monaten hier, aber wir haben noch immer keine Möglichkeit, Deutsch zu lernen“, sagt Karim in gebrochenem Englisch. Dass der Kreis freie Wohnungen zuerst an Familien und minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern vergeben will, versteht der Mann aus Syrien nicht: „Sind wir denn keine Menschen?“ (mz)