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Gründer des "Zentrums für politische Schönheit" Gründer des "Zentrums für politische Schönheit": Philipp Ruch: "Alle entlassen und zwar sofort!"

05.01.2016, 09:11
Philipp Ruch vor dem Reichstag in Berlin. Die Asche im Gesicht ist Teil der Inszenierung des „Zentrums für politische Schönheit“.
Philipp Ruch vor dem Reichstag in Berlin. Die Asche im Gesicht ist Teil der Inszenierung des „Zentrums für politische Schönheit“. dpa Lizenz

berlin - Im Jahr 2008 gründete der in Dresden geborene Philosoph und Künstler Philipp Ruch (34) in Berlin das Zentrum für politische Schönheit, einen Zusammenschluss von 70 Künstlern und Kreativen. 2015 erregte der Verbund mit der Aktion „Die Toten kommen“ Aufsehen, um auf die Folgen der europäischen Flüchtlingspolitik hinzuweisen. Mit dem Verständnis der Angehörigen wurden an der europäischen Außengrenze gestorbene Flüchtlinge exhumiert und in Berlin beigesetzt. Dieser Tage veröffentlichte Philipp Ruch sein Programmbuch „Wenn nicht wir, wer dann?“. Manuel Schumann sprach mit dem Autor.

Herr Ruch, gibt es einen Innenminister in Deutschland, dessen Rücktritt Sie nicht fordern?

Ruch: Nein, alle entlassen, und zwar sofort! Und bitte ersetzen durch Syrer. Denn viele derer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, haben alle fachlichen Qualitäten, die man sich von einem humaneren Innenministerium wünscht. Zum Beispiel ein Bewusstsein für die Chancen der Integration.

Sie sprechen stets von „den Politikern“...

Ruch: Na klar!

Und Sie beschimpfen sie gern.

Ruch: Unbedingt!

Trotzdem betonen Sie, Ihnen gehe es nicht um Provokationen.

Ruch: Christoph Schlingensief sagte Veranstaltungen ab, wenn deren Organisatoren ihn ankündigten mit: „Schlingensief, der große Provokateur“. Diese blödsinnigen Etiketten haben ihn unheimlich genervt. Das kann ich gut verstehen.

Weshalb differenzieren Sie dann nicht?

Ruch: Das würde ich sehr gern tun, aber leider geht das nicht. Die Realität ist düster. Die Mitglieder der Bundesregierung sind Verwalter des Status Quo. Keiner von denen ist es gewohnt, unkonventionell zu denken oder seine Fantasie anzuschmeißen. Keiner von denen hat eine Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen könnte. Nicht ich provoziere, sondern die derzeitige politische Führung ist die reinste Provokation. Diese Gleichgültigkeit im Land ist grauenvoll und gefährlich.

Sie schreiben in Ihrem Buch, die Macht von Visionen werde notorisch unterschätzt.

Ruch: Ja, leider sehen wir zurzeit überall staubtrockene Seelen, die uns Politik vorspielen. Denken Sie an unseren Bundesinnenminister, der immer noch im Amt ist. Ein echter Kinderschreck! Jedes Kleinkind läuft weg, wenn es den Kerl erblickt.

Wie sehen Ihre Visionen aus?

Ruch: Der wichtigste Schritt, um das Verbrechen an unseren Außengrenzen zu beenden ist, allen Menschen, die auf der Flucht sind, den Kauf von Flugtickets zu gestatten. Damit wären fast alle Verbrechen, die wir als pseudozivilisierte Welt begehen, abgestellt. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir derart vielen Menschen die Einreise verbieten. Währenddessen schwafeln unsere Politiker, sie wollten die bösen Schlepperbanden bekämpfen - wie passt das bitteschön zusammen? Wir zwingen die Menschen in die Illegalität. Wir treiben sie in überfüllte Schlauchboote. Sie sterben direkt vor unseren Augen - und wir schauen zu. Das ist unerträglich. Wir sollten den Flüchtlingen gestatten, in Würde zu uns zu kommen. Derzeit passiert leider das Gegenteil, selbst Grünen-Politiker sprechen von „Begrenzungen“.

Sie schreiben: „Was in Syrien und den europäischen Außengrenzen geschieht, das sind Ausnahmezustände der Humanität. Da kann man nicht einfach in der Fußgängerzone stehen und Prospekte verteilen.“ Herr Ruch, man könnte den zweiten Satz auch ersetzen durch: Da kann man nicht einfach vor dem Bundestag stehen und wie Sie Bomben-Attrappen aufbauen.

Ruch: Die stellten die unbenutzten Bomben dar, die wir nicht eingesetzt hatten, als in Srebrenica 40 000 Zivilisten vor der Vernichtung standen. Wir haben die Bomben dem Bundestag direkt vor die Füße gelegt. Es gibt in Deutschland derart viel Gratismut, da muss einem schlecht werden: Mahnwachen, Lichterketten bilden, Kerzen anzünden, dieser ganze halbherzige Blödsinn. Wir müssen für unsere Überzeugungen endlich wieder einstehen und dafür einstehen, dass es rote Linien gibt, die nicht übertreten werden. Wenn pro Woche mehr Menschen an unseren Außengrenzen sterben als in der gesamten Zeit des Kalten Krieges am Eisernen Vorhang, dann ist das eine dieser Linien. Wir brauchen einen aggressiven Humanismus.

Hassen Sie die Menschen, die sich nicht für Politik interessieren?

Ruch: Nein, ich interessiere mich sogar verstärkt für sie. Ich selbst habe relativ lange gebraucht, ehe ich auf die Intensivstation des politischen Bewusstseins gefunden habe. Darin geht es in meinem neuen Buch: Woran liegt es, dass Menschen das Gefühl haben „Auf mich kommt es ja eh nicht an“.

Was kann das Zentrum für Politische Schönheit bewirken?

Ruch: Wir bringen den aggressiven Humanismus näher. Wir machen auf all die Freiheiten und Privilegien aufmerksam, die wir hier in Europa genießen. Schauen Sie sich den Geschäftsführer von Pro Asyl an! Wenn er in Talkshows redet, schläft man ein. Er stellvertritt die wichtigste und dringlichste Angelegenheit des Planeten. Aber man hört nur einem Verwaltungsangestellten zu, der über technische Details zu reden scheint.

Welche Fragen vermissen Sie in der Debatte?

Ruch: Wofür ist die Wirtschaftspolitik überhaupt da? Was soll der ganze Reichtum, der ganze Krempel, wenn wir damit nicht den Hunger bekämpfen? Wenn wir damit nicht alles in unserer Macht stehende tun, damit Menschen lebend auf Lesbos ankommen. Wir müssen Großes wagen. Diese Zeit benötigt nichts dringender als einen Visionär vom Typus Willy Brandt. Das ist unser Staat. Dies ist unsere Politik. Und: Es ist unsere Zeit. (mz)