1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Stammzellenspende in Merseburg: Stammzellenspende in Merseburg: Lebensretterin wird zur Freundin

Stammzellenspende in Merseburg Stammzellenspende in Merseburg: Lebensretterin wird zur Freundin

Von Julius Lukas 02.01.2016, 10:49
Stammzellspenderin Nancy Hoffmann (34, rechts) und die Empfängerin Judith Raczynski (28) sind gute Freundinnen geworden.
Stammzellspenderin Nancy Hoffmann (34, rechts) und die Empfängerin Judith Raczynski (28) sind gute Freundinnen geworden. Marco Junghans Lizenz

Merseburg - Wer Judith Raczynski und Nancy Hoffmann zusammen sieht, der könnte denken, dass sich die beiden jungen Frauen aus Merseburg schon eine Ewigkeit kennen. Im Gespräch passiert es oft, dass sie sich zueinander drehen und beginnen zu lachen. Sie wirken vertraut, könnten Sandkasten- oder gar Schulfreundinnen sein. Doch so ist es nicht.

„Das erste Mal haben wir uns im vergangenen Jahr getroffen“, sagt Hoffmann. „Im Spätsommer muss das gewesen sein. Wir wollten eigentlich im Schlossgarten spazieren gehen, haben uns dann aber in das Café am Kloster gesetzt und geredet. Es gab ja auch einiges zu erzählen.“

In dem Café sitzen sie nun wieder. Es ist kurz vor Weihnachten. Obwohl Raczynski und Hoffmann sich erst vor einem Jahr richtig kennenlernten, begann ihre gemeinsame Geschichte schon mehr als zwei Jahre zuvor: Am 6. Juni 2012. Raczynski erinnert sich:

„Das war der Tag, an dem ich meine erste Stammzellspende bekam. Ich war im Klinikum in Halle-Kröllwitz in der Isolation. Die Luft in meinem Zimmer wurde gefiltert. Nur vermummt durfte es betreten werden, damit keine Keime hinein kamen. Bevor man transplantiert wird, muss das eigene Immunsystem mit einer Chemotherapie komplett kaputt gemacht werden. Alle Abwehrkräfte sind dann weg. Nur so können die neuen Stammzellen gut anwachsen. Nach zehn Tagen Chemo bekam ich die Spende. Dass es Nancys Zellen waren, wusste ich damals nicht. Die Spende war ja anonym.“

Die Stammzellspende beginnt mit der Registrierung bei einer Spenderdatei. Dabei wird mit einem Wattestäbchen ein Abstrich im Mund gemacht. Mit der Probe werden die genetischen Merkmale einer Person bestimmt. Stimmen diese mit denen eines Patienten überein, so wird aus dem potenziellen ein richtiger Spender.

Allerdings kann jeder Registrierte auch ablehnen. In der Realität passiert das jedoch nur in einem Prozent der Fälle. Eine Vergütung bekommt der Spender nicht. Es werden nur entstandene Kosten erstattet, etwa die Fahrt zur Klinik.

Es gibt zwei Arten, an Stammzellen heranzukommen. Die erste und mit Abstand häufigste (über 80 Prozent) ist eine Blutentnahme. Die dauert mehrere Stunden. Aus dem Blut werden die Stammzellen gefiltert. Die zweite ist eine Spende des Knochenmarks.

Diese Variante verspricht bei manchen Krankheitsbildern bessere Heilungschancen. Unter Vollnarkose wird das Mark aus dem Becken entnommen.

Obwohl oft angenommen, bleibt das Rückenmark vollkommen unangetastet. Anschließend bekommt der Patient die Stammzellen über eine Infusion. 

Raczynski brauchte neue Stammzellen, weil sie an Akuter Myeloischer Leukämie litt, einer aggressiven Blutkrebs-Art. Bei jungen Menschen ist sie selten. Als Raczynski die Diagnose bekam, war sie 24 Jahre alt.

„Schon in meiner Ausbildung zur Krankenschwester in Berlin gab es erste Anzeichen. Ich kriegte leicht blaue Flecken. Warum, konnte mir kein Arzt sagen. Dann brach ich mir den Fuß. Ich bekam einen Gips. Und weil meine Berliner Wohnung ganz oben war, zog ich erst einmal zu meinen Eltern nach Leuna. Doch der Fuß wurde nicht besser.“

Im Krankenhaus in Merseburg stellten die Ärzte fest, dass sich ein Wunddruckgeschwür gebildet hatte. Es musste operiert werden. Haut wurde von der Leiste an den Fuß verpflanzt. Doch die Wunde entzündete sich. Eine erneute Operation war notwendig. Dabei wurde eine Blutvergiftung entdeckt. Raczynski kam ins künstliche Koma und wurde nach Halle verlegt.

„Nach drei Wochen wachte ich auf. Ich lag ewig auf der Intensivstation. Immer wieder gab es neue Entzündungen, neue Operationen. Die Ärzte vermuteten zwar, dass etwas mit meinem Blut nicht stimmt, aber durch die Vergiftung und die Infektionen wurden die Werte verfälscht. Nach ungefähr einem Jahr hatte ich mich erholt. Ich durfte aus dem Krankenhaus raus. Alles war in Ordnung. Bis zur Nachuntersuchung im Januar 2012. Die Ärzte sagten, sie glauben nicht, dass etwas mit dem Blut ist. Sie wollen nur sicher gehen. Sie machten einen Knochenmarkpunktion. Dann kam die Diagnose: Leukämie.“

In Deutschland erkrankt alle 37 Minuten ein Mensch an Blutkrebs. Rund 7 500 sterben pro Jahr daran. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt bei deutlich über 50 Prozent. Eine der wichtigsten Therapien ist die Stammzelltransplantation.

„Als ich die Diagnose bekam, fand ich das zum Kotzen ungerecht. Das ist eine Sache, die sich so vollkommen deiner Kontrolle entzieht. Aber man ist gezwungen, damit umzugehen. Eine Wahl hatte ich ja nicht. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Eine Chemo, damit ich noch ein paar Monate länger lebe? So hab ich das damals empfunden. Aber die Ärzte meinten: Wir empfehlen ihnen eine Stammzellspende, weil wir denken, dass sie das schaffen können. Das wollte ich hören.“

Die Suche beginnt im Verwandtenkreis. In rund 30 Prozent der Fälle wird dort ein passender Spender gefunden. Bei Judith Raczynski nicht. Nächster Anlaufpunkt ist das Zentrale Knochenmarkspender-Register. Dort sind alle Personen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland als Spender gemeldet haben, eingetragen. Derzeit sind das ungefähr 6,4 Millionen. Unter ihnen wird der genetische Zwilling des Patienten gesucht. Entscheidend ist die möglichst 100-prozentige Übereinstimmung der Gewebemerkmale. Die Chance, dabei tatsächlich jemanden zu finden, liegt im günstigsten Fall bei 1:20 000. Durch die hohe Zahl der Registrierten wird jedoch für 90 Prozent der Erkrankten ein passender Spender ermittelt. Auch für Judith Raczynski. Ihr Zwilling ist Nancy Hoffmann.

„Als die Spenden-Anfrage kam, lag meine Registrierung schon sieben Jahre zurück. Deswegen war ich auch etwas überrascht. Ich hatte mich bei der Deutschen Stammzellspenderdatei typisieren lassen, als ein Bekannter an Leukämie erkrankte. Ich überlegte gar nicht lange, ob ich die Stammzellen auch wirklich spende. Ich wusste ja, dass ich damit jemandem das Leben retten könnte. Und wenn ich darauf angewiesen wäre, würde ich auch hoffen, dass das jemand für mich tut.“

Nancy Hoffmann ist Flugbegleiterin. Am Tag der Spende hat sie frei. Sie fährt in eine Klinik nach Dessau-Roßlau. Dort hat die Deutsche Stammzellspenderdatei (DSD) ihren Sitz. Sie wird untersucht und bekommt ein Medikament, das das Wachstum der Stammzellen anregt. Dann spendet sie. Zweimal sogar, weil beim ersten Versuch zu wenig Zellen herausgefiltert werden. Die Spende wird sofort nach Halle gebracht, wo Judith Raczynski in der Isolation wartet.

„Nach der Transplantation wachsen die neuen Zellen an. Bei mir dauerte das sehr lange. Ich war noch zwei Monate in der Isolation. Eine Ewigkeit. Als ich endlich raus durfte, musste ich einen Mundschutz tragen. Ich ging kaum auf die Straße. Und wenn, dann schauten mich die Leute an, als hätte ich einen ansteckende Krankheit. Dabei musste ich mich doch vor ihnen schützen.“

Als Raczynski noch im Krankenhaus ist, bekommt sie von Nancy Hoffmann eine Genesungskarte. Es ist der erste Kontakt mit ihrer Spenderin. Dass sie ganz in ihrer Nähe lebt, weiß Raczynski damals noch nicht. Sie schreibt zurück. Ein Briefwechsel entsteht. Mitarbeiter der DSD lesen jedoch mit. In Deutschland dürfen sich Spender und Empfänger erst nach zwei Jahren persönlich kennenlernen. In anderen Länder sogar nie. Private Details sind in den Briefen deswegen tabu. Der Grund: Falls sich die beiden nicht sympathisch sind, könnte eine mögliche zweite Spende abgelehnt werden. Und eine zweite Spende braucht auch Judith Raczynski.

„Nach einem Jahr kam die Leukämie zurück. Bei einer Untersuchung wurde festgestellt, dass mein Eigenblutanteil zu hoch ist. Die Spenderzellen von Nancy haben die Blutproduktion nicht vollkommen übernommen. Ich brauchte eine neue Transplantation. Nancy kam nicht mehr in Frage, weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat und weil ein zweiter Spender gefunden wurde. Im September 2013 musste ich dann alles noch einmal machen: Isolation, Chemo, Transplantation. Die Behandlung vertrug ich dieses Mal viel schlechter. Ich übergab mich oft. Als ich aus dem Krankenhaus kam, wog ich noch 38 Kilo. Die Ärzte sagten, dass ich eine dritte Transplantation wohl nicht überstehen würde.“

Von Heilung wird bei Leukämie-Patienten nie gesprochen. Doch jedes Jahr ohne Rückfall lässt das Risiko einer erneuten Erkrankung sinken. Raczynski hat mehr als zwei Jahre geschafft. Seit einem Jahr ist auch Nancy Hoffmann an ihrer Seite.

„Es ist nicht so, dass ich dauerhafte Dankbarkeit von Judith erwarte oder die Spende die ganze Zeit über uns schwebt. Die war beim ersten Treffen natürlich ein Thema, aber danach eigentlich nicht mehr. Wir sind ganz normale Freundinnen, die zusammen Spanisch lernen und Yoga-Kurse machen. Nur wie wir uns kennengelernt haben, ist vielleicht ein bisschen besonders.“

Als die beiden das Café verlassen, haken sie sich ein. Sie laufen zum Auto von Hoffmann. „Wir fahren noch zu meinen Eltern“, sagt sie. Die würden nämlich auf ihren Sohn aufpassen. Der sei gerade erst geboren, noch ein Baby. „Und den Kleinen möchte ich natürlich noch sehen“, sagt Raczynski und beide gehen Arm in Arm davon. (mz)

Weitere Informationen zur Stammzellenspende im Internet deutsche-stammzellspenderdatei.de oder telefonisch unter 0340-519 65 20