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Zeitgeschichte Zeitgeschichte: Übergriffe sowjetischer Soldaten in der Nachkriegszeit

Von steffen könau 02.01.2016, 16:26
Leipzig 1946: Zwei Sowjetsoldaten versuchen, sich einer Frau zu nähern.
Leipzig 1946: Zwei Sowjetsoldaten versuchen, sich einer Frau zu nähern. Ullstein Lizenz

Halle (Saale) - Die neue Macht kommt mit Versprechen. „Der Zivilbevölkerung der von der Roten Armee besetzten Gebiete droht keine Gefahr“, steht auf einem Flugblatt, das Stalins Militärverwaltung auch in Sachsen-Anhalt aushängen lässt. Die Amerikaner sind weg, die Russen sind da, doch der Krieg ist immer noch vorüber und es geht immer noch um den Wiederaufbau. Das zumindest möchten in Halle, Merseburg, Zeitz und Köthen alle glauben.

Der Alltag ein halbes Jahr nach dem Wachwechsel der Besatzungsmächte aber sieht ganz anders aus, als es die Beteuerungen der sowjetischen Militärkommandanten und der deutschen Kommunisten versprochen hatten. Der Krieg ist vorüber, aber vorbei ist er noch immer nicht: Statt Frieden ist eine Zeit angebrochen, in der Rechtlosigkeit und Anarchie herrschen.

Einerseits jagt der sowjetische Geheimdienst NKWD immer noch sogenannte Hitlerverbrecher, ohne dabei immer ganz genau hinzuschauen. Andererseits marodieren Sowjetsoldaten durchs Land, die sich nehmen, was sie wollen, ohne zu fragen, wem es gehört.

Raubzüge mit brutaler Waffengewalt

Und die Menschen spüren, dass die deutschen Verwaltungen nichts tun können, die sowjetischen aber nichts tun wollen. Polizeistationen notieren Raubzüge, häufig genug mit brutaler Waffengewalt durchgeführt. Vergewaltigungen, Diebstähle, Überfälle und Morde werden akribisch notiert. So meldet 1946 der Polizeipräsident von Halle von Januar bis Mai 34 Morde, 328 Straßenüberfälle, 212 Misshandlungen und 162 Vergewaltigungen unter anderen an Walter Ulbricht und den späteren Stasi-Chef Erich Mielke. Doch Konsequenzen hat das nicht, denn viele Sowjetoffiziere sind der Ansicht, dass ihre Soldaten es sich nach Jahren harter Kämpfe verdient haben, etwas Beute zu machen.

Kommt es dazu, dass ein Täter beim Versuch gefasst wird, sich Lebensmittel, Tabak, Alkohol oder Wertgegenstände zum Nachhauseschicken zu stehlen, bleibt die Justiz zahnlos. Als ein Sowjetsoldat in Schrampe am Ahrendsee nördlich von Magdeburg den Bauern Werner Schrader und seinen 15-jährigen Sohn zum zweiten Mal überfällt, wehren sich die Opfer mit einer Axt und melden den Fall an die sowjetische Kommandantur. Mit dem Ergebnis, dass der Täter zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird. Vater Schrader jedoch zum Tode und sein Sohn zu einer zehnjährigen Haftstrafe.

Deutsche Genossen wie Untergebene behandelt

In den Städten und Dörfern herrscht böses Blut, sobald sich solche Nachrichten herumsprechen. In Dessau etwa berichtet eine Frau, dass Sowjetsoldaten ihren Mann kommentarlos abgeholt und danach auch noch ihre Wohnung ausgeräumt hätten. Doch der Bezirksvizepräsident kann sie nur vertrösten. Hilfe sei „nur von einer unmittelbaren Einwirkung der KPD auf den sowjetischen Geheimdienst“ zu erhoffen. Ausgang allerdings ungewiss, denn die Militärverwaltung behandelt die deutschen Genossen in der Regel nicht wie Partner, sondern wie Untergebene, denen man prinzipiell keine Erklärung schuldig ist. Stattdessen wird schon mal angewiesen, dass Ermittlungen einzustellen sind.

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Selbst führende Funktionäre, die sich selbst als Verbündete der Sowjetunion sehen, sind den Zuständen hilflos ausgeliefert. So wird Ernst Thape, Vizepräsident der Provinzialverwaltung, auf offener Straße von zwei Russen überfallen und einer Uhr beraubt, die der entschiedene Antifaschist über seine Zeit im KZ Buchenwald gerettet hatte. Max Fechner, später DDR-Justizminister, wird von bewaffneten Banditen in sowjetischer Uniform angehalten, sein Dienstwagen, sein Geld und seine Uhr werden gestohlen, ebenso alle Wertgegenstände seiner Begleiter. Selbst Wilhelm Pieck, als SED-Vorsitzender wenig später erster Ansprechpartner der Kreml-Chefs, kann nur einen Bittbrief an die Genossen in Moskau schreiben: „Ich bitte Sie sehr, dass Genossen Max Fechner bald ein neues Auto zur Verfügung gestellt wird, damit er sich seinen Aufgaben widmen kann.“

Überfall auf Personenzug

Rechtlosigkeit, die die gerade erst gegründeten deutschen Behörden mehr beunruhigt als die sowjetische Militärverwaltung. Dabei gleicht der deutsche Osten in diesen Tagen dem Wilden Westen. Kurz vor Zscherben wird ein Personenzug von Russen gestoppt, die mit vorgehaltener Pistole versuchen, Koffer mitzunehmen. Als sich Widerstand regt, wird geschossen. Ein Mann ist tot, zwei Frauen liegen schwer verletzt am Boden, ein kleines Mädchen ist leicht verwundet. In Gerwisch stürmen 50 Offiziere einen Tanzsaal, nachdem sie wegen Überfüllung abgewiesen worden sind. Es kommt zu Übergriffen, am Ende fliegen Handgranaten und es wird geschossen. Die Täter nehmen dabei keinerlei Rücksicht auf Rang, Systemnähe oder Status ihrer Opfer. Selbst einem ehemaligen KZ-Häftling, der seinen Bedrängern seinen Ausweis als Opfer des Faschismus zeigt, wird das Fahrrad weggenommen.

Aber nicht nur Unterwegssein ist gefährlich, sondern auch, sich daheim aufzuhalten. In Geestgottberg in der Altmark etwa fällt eines Abends ein ganzer Rotarmisten-Trupp über ein halbes Dutzend Haushalte her. Es werden Schweine gestohlen, aber auch Kinderschuhe und Bettwäsche. „Die Diebe hatten ein Pferdefuhrwerk zum Abtransport“, meldet die KPD-Grundorganisation des Dorfes.

Dort, in den Verwaltungen, die oft von Kommunisten oder doch von erklärten Antifaschisten geführt werden, ist das Problem bekannt. Aber niemand weiß, wie eine Lösung aussehen könnte. Die KPD in Wanzleben berichtet höheren Ortes, die Leute seien eingeschüchtert „und schließen sich beim Dunkelwerden ein“. Provinzpräsident Erhard Hübener wünscht sich, „in gleicher Weise“ wie bei deutschen Verbrechern auch Ermittlungen der Polizei „gegen Verstöße der Besatzungstruppen“. Beim Wunsch bleibt es. Die KPD- und wenig später auch die SED-Führung sind sich zumindest in den oberen Etagen darüber im Klaren, was es bedeuten kann, die Armee Stalins zu kritisieren. Pieck und Ulbricht, die den großen Terror der 30er Jahre und die Schauprozesse und Säuberungen überlebt hatten, ist klar, dass zu lauter Protest sich gegen den Protestierenden richten könnte.

„Mädchen auf dem Heimweg vergewaltigt“

Stattdessen verlegt sich der aus Weißenfels stammende Fred Oelßner, der später ins SED-Politbüro aufrücken wird, auf entschuldigende Deutungen. „Was in Deutschland geschieht, kann in keiner Weise verglichen werden mit dem, was in der Sowjetunion passiert ist.“

So werden weiter „Mädchen auf dem Heimweg vergewaltigt“, wie die FDJ in Olvenstedt klagt. Soldaten stehlen Kartoffeln tonnenweise, Neubauernhöfe werden dermaßen ausgeplündert, dass zahlreiche Neubauern die Abgaben nicht mehr zusammenbringen und ihre Höfe aufgeben müssen. Und über all dem schwebt das nicht zu diskutierende Problem der Reparationen, die Ostdeutschland nicht nur liefern, sondern auch noch selbst organisieren und bezahlen muss. „Elemente nutzen diese ganzen Vorfälle, um gegen die Rote Armee Stimmung zu machen“, heißt es in einem Bericht. Besser wird es nicht. Und der Hungerwinter 46/47 steht nun erst vor der Tür.

Hunger prägt die ersten Nachkriegsjahre.
Hunger prägt die ersten Nachkriegsjahre.
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