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Gnade vor Freiheit Gnade vor Freiheit: Begnadigter Mörder aus Lodersleben kämpft um seine Unschuld

Von Katrin Löwe 23.09.2015, 17:51
Helmut Marquardt in seinem heimischen Garten in Lodersleben. Seit gut einem Jahr ist er wieder frei.
Helmut Marquardt in seinem heimischen Garten in Lodersleben. Seit gut einem Jahr ist er wieder frei. Peter Wölk Lizenz

Lodersleben - Es wird eine Geburtstagsfeier werden, wie sie für viele selbstverständlich ist. Am Freitag wird Helmut Marquardt 79 Jahre alt, am Wochenende findet sich die Verwandtschaft im beschaulichen Lodersleben bei Querfurt (Saalekreis) ein. Rund 20 Gäste werden dann am Tisch sitzen. So weit, so unspektakulär. Wäre da nicht die Tatsache, dass der Senior mit dem schütteren weißen Haar viele vergangene Geburtstage so nicht feiern konnte, weil er sie hinter Gittern verbracht hat.

Zwölf Jahre lang war er im Gefängnis, rechtskräftig verurteilt wegen des Mordes an seinem Schwager im Frühling 2002. Im Sommer vergangenen Jahres wurde Marquardt von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) begnadigt - überraschend, nachdem mehrere Gesuche zuvor abgelehnt worden waren. „Ich möchte Herrn Haseloff danken, dass er die Kraft gehabt hat, mich zu begnadigen“, sagt Marquardt noch heute. Seine Stimme zittert bei diesen Worten.

Er sitzt in seinem Haus in Lodersleben, das er nach der Wende - aus Hamburg zurückgekehrt - mit seiner Lebensgefährtin gebaut hat. Draußen im Garten blühen die Blumen. „Meine Frau hat den grünen Daumen, ich bin wieder für den Rasen und andere Dinge zuständig“, erzählt Marquardt. Jeden Morgen beschließen beide spontan, wie sie den Tag verbringen - oft sind es kurze Ausflüge. Marquardt ist seit gut 14 Monaten frei, auf Bewährung. Trotzdem: Auch nach der Begnadigung ist er rechtlich ein verurteilter Mörder. Seine Schuld aber bestreitet Marquardt bis heute. „Glauben Sie mir, das ist ein unaufgeklärter Fall.“ Staatsanwaltschaft und Gerichte sehen das anders.

Brutale Tat im Nachbarhaus

Es ist ein Fall, der im März 2002 in Lodersleben im Haus von Marquardts Schwager und Nachbar HerbertS. begann. Damals wurde der 78-Jährige mit Kabelbindern gefesselt, mit vier wuchtigen Schlägen auf den Hinterkopf und Messerstichen in den Hals ermordet. Nach einem 47 Verhandlungstage langen Indizienprozess, in dem Marquardt zwischenzeitlich sogar wieder auf freiem Fuß war, verurteilte ihn das Landgericht Halle zu lebenslanger Haft. Es stützte sich vor allem auf eine DNA-Spur von ihm, die an der Hand des Toten gefunden wurde. Erst später erklärte Marquardt, seinen Schwager gefunden und nach Lebenszeichen gesucht, aus Schock aber nicht die Polizei informiert zu haben. Sein Anwalt habe ihn angewiesen, das im Prozess nicht zu sagen. Dazu, so ein anderer Anwalt später, gebe es eine eidesstattliche Versicherung des damaligen Verteidigers.

Mit neuen Anwälten versuchte Marquardt jahrelang, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Rechtlich ist das nur unter strengen Voraussetzungen möglich (siehe „Gnade vor Recht“). Immer wieder scheiterten die Anträge - vor allen Instanzen, zuletzt auch beim Bundesverfassungsgericht. Rund 180000 Euro habe er für Anwalts- und Gerichtskosten bezahlt, sagt der Rentner.

Anfang dieses Jahres ist in dem Fall eine neue Anzeige erstattet worden, die Zeugenaussagen im damaligen Mordprozess in Zweifel zieht. Die hallesche Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben die Ermittlungen dazu aber eingestellt. Es habe sich kein ausreichender Verdacht ergeben, so Sprecher Klaus Wiechmann. Und: „Wir suchen keinen Mörder mehr. Den haben wir“, betont der Staatsanwalt. „Das damalige Urteil haben so viele Gerichte überprüft. So viele können nicht irren.“

Auf der nächsten Seite: Es gibt berechtigte Zweifel an der Schuld Marquardts. Wie ein Freundeskreis um die Freilassung kämpfte.

Rüdiger Grunow ist da anderer Ansicht: „Die Justiz betreibt Vogel-Strauß-Politik.“ Der Jenaer ist einer der Initiatoren eines vor Jahren gegründeten „Freundeskreises Helmut Marquardt“, der unter anderem aus ehrenamtlichen Seelsorgehelfern und Kirchenmitgliedern besteht. Bis zu 150 Mitzeichner gab es laut Grunow, 20 im aktiven Kern. Jahrelang haben sie für eine Freilassung von Marquardt gekämpft, haben demonstriert, immer wieder Briefe an Justiz und Politik geschrieben. Gegen die jüngste Entscheidung der Staatsanwaltschaft wolle man Einspruch erheben, kündigt Grunow, selbst langjähriger Gemeindekirchenratsvorsitzender, an. „Je länger ich ihn kenne, umso überzeugter bin ich, dass er den Mord nicht begangen hat“, sagt auch die ehrenamtliche Kirchenmusikerin Cordula Schlemmer (80). Wie Grunow hat sie Marquardt erst während dessen Haft kennengelernt.

Zweifel hat nach einer Durchsicht der Akten zudem das von Marquardt und dem Freundeskreis beauftragte „Kriminalistische Institut Jena“ - ein Verein, der nach eigenen Angaben aus aktiven und pensionierten Kriminalisten und Wissenschaftlern besteht. „Die damaligen Untersuchungen waren sehr oberflächlich, manche Spuren wurden gar nicht untersucht“, so Dieter Siegel vom Verein. Auch ein psychologisches Gutachten über ihn, sagt Marquardt selbst, sei damals nicht angefertigt worden. „Dabei macht man das bei jedem Strauchdieb.“

Familie im Rücken

Der Loderslebener steht im Kontakt mit dem noch immer aktiven Freundeskreis. Er sagt, er wäre bereit, erneut auszusagen. Nur selbst um eine Rehabilitierung zu kämpfen, dazu fehle ihm die Kraft. „Da kommt alles wieder hoch. Ich habe ein reines Gewissen und kann damit leben, wie es jetzt ist. Auch wenn ich die Zeit im Gefängnis nicht abschütteln kann.“ Tochter und Enkelin haben zu ihm gehalten, die Lebensgefährtin auch. „Mir wurde immer geholfen“, sagt sie. Von Verwandten, Freunden, die sie regelmäßig zu den Besuchszeiten ins Gefängnis fuhren, erst nach Naumburg, später nach Burg. Und die alles stehen und liegen ließen, als Marquardt 2014 von einer Sekunde auf die andere frei kam.

Heute erzählt der Rentner auch von der Zeit danach. „Es war nicht so einfach, ins normale Leben zurückzukommen.“ Da waren Kleinigkeiten wie der neu zu beantragende Personalausweis oder die Tatsache, dass er sich erst wieder ans Autofahren gewöhnen musste. Da seien, sagt Marquardt, aber bis heute auch Albträume. Er habe Zeit gebraucht, sich neu zu sammeln. Zweimal war er während der Haft auf Besuch zu Hause. „Aber es ist ein Unterschied, wenn man weiß, man muss nicht zurück.“

Marquardt ist heute ein schwer kranker Mann. Vier Herzinfarkte habe er im Gefängnis gehabt, sagt er, dann kam auch noch Diabetes dazu. Viermal am Tag muss er sich Spritzen setzen. Lange Spaziergänge sind nicht mehr möglich, mit ein bisschen Sport an den heimischen Hometrainern versucht Marquardt sich fit zu halten. Und auch wenn er während der Haft natürlich medizinische Behandlung hatte, ist der Rentner von einem Punkt überzeugt: „Im Gefängnis würde ich heute nicht mehr leben.“ (mz)