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Spitzenspitzel Wolfgang Schnur Spitzenspitzel Wolfgang Schnur: Der tiefe Fall des Stasi-Stars

Von Steffen Könau 08.04.2015, 18:56
Wolfgang Schnur nach seinem Sturz: Der Politstar fiel über seine Tätigkeit als Spitzenspitzel des MfS.
Wolfgang Schnur nach seinem Sturz: Der Politstar fiel über seine Tätigkeit als Spitzenspitzel des MfS. dpa Lizenz

Halle (Saale) - Er steht vor dem Rathaus in Halle an diesem Tag im Jahr 1989, der ihn so glücklich machen wird, wie ihn nichts vorher jemals glücklich gemacht hat. Wolfgang Schnur blickt auf eine unübersehbare Menschenmenge, die Leute schwenken Fahnen, sie jubeln, sie feiern ihn. Schnur, über Jahrzehnte einer aus der elitären Gruppe der DDR-Rechtsanwälte im Niemandsland zwischen Ost und West, wähnt sich am Ziel.

„Hier steht der künftige Ministerpräsident“, ruft der 45-Jährige, der seit einigen Tagen Spitzenkandidat der „Allianz für Deutschland“ ist. Die, angeführt von West-CDU-Chef Helmut Kohl, schickt sich an, stärkste Partei in der kollabierenden DDR zu werden. Wolfgang Schnur, 45, wird damit endlich dorthin kommen, wo er schon mit 20 hinwollte: ganz nach oben.

Schnur, der Getriebene

„Ich wollte der Nachfolger von Egon Krenz werden“, beschreibt er. Damals habe er nicht an Wiedervereinigung oder CDU gedacht. Nein, er ist bereit, seine Karriere in der SED voranzutreiben. „Ich wollte Frieden“, sagt der kleine Mann mit dem spitzem Gesicht, der immer fahrig ist, getrieben, in jedem Satz schon beim nächsten. Wolfgang Schnur hat keine Zeit, er hatte sie nie, er muss weiter, höher, braucht mehr. Mehr Liebe, mehr Anerkennung, mehr Macht.

Die SED hat ihn aussortiert. Mutter im Westen, selbst kurz vor dem Mauerbau dorthin gereist? Schnur, als vermeintliche Kriegswaise bei Pflegeeltern aufgewachsen, sieht für die DDR-Sicherheitsorgane aus wie ein unsicherer Kantonist. Aber eifrig ist er und zu allem bereit, um seinen Nutzen unter Beweis zu stellen. Die Staatssicherheit muss den gerade als FDJ-Funktionär aussortierten 21-Jährigen nicht überreden. Schnur unterschreibt freiwillig als Inoffizieller Mitarbeiter, er nennt sich „Torsten“.

Es ist der Beginn eines rauschhaften Doppellebens, das den bienenfleißigen und ebenso fantasiebegabten wie skrupellosen Gleisbauer aus dem Örtchen Natzevitz auf Rügen zum wohlhabenden Anwalt, zum wichtigsten Spitzel des MfS und im Wendejahr 1990 beinahe sogar wirklich noch zum DDR-Regierungschef macht.

Alexander Kobylinski ist einer von denen, die von Schnur vertreten und verraten wurden. Der Erfurter hatte 1984 auf Flugblättern zum Boykott der Kommunalwahlen in der DDR aufgerufen. Die Stasi erwischt ihn und als Schnur zum ersten Mal im Gefängnis erscheint, mutet der kleine Rechtsanwalt an wie eine funkelnde Lichtgestalt, wie Kobylinski in seinem gerade erschienen Buch „Der verratene Verräter“ schreibt.

Dass Schnur, eingebunden in höchste Kirchenkreise, auf allen Seiten spielt, hat auch Kobylinski erst erfahren, als Führungsoffiziere des frischgebackenen Spitzenpolitikers Schnurs IM-Akte Anfang 1990 an die Medien durchreichen.

Scheitern auf der Ziellinie

Schnur wehrt sich, er lügt und schwindelt, er kämpft um seinen Traum vom Regierungschef. Vergebens. Ein Berg aus Spitzelberichten, zusammengetragen in fast 600 Treffen mit Stasi-Offizieren, begräbt ihn unter sich. Schnur wird später sagen, er sei „aus freien Stücken“ abgetreten, „um meiner Partei nicht zu schaden“. Er belügt nicht nur seine Mandanten, die Partner in den Gremien der evangelischen Kirche und das MfS, dem er zu keiner Zeit seines Schaffens als IM die volle Wahrheit berichtet. Wolfgang Schnur belügt auch sich selbst. In seinem Wirken als Anwalt von Wehrdienstverweigerern und Bürgerrechtlern habe er die Stasi benutzt, schwört er. Dass er selbst vom Mielke-Ministerium benutzt wurde, sei ihm nie klargewesen. Natürlich habe es die IM-Tätigkeit mit sich gebracht, dass er Menschen verraten musste. Aber das sei, versichert er, stets zu deren Bestem gewesen. Schnur verteidigt es als „notwendig, Leute mieszumachen und zu sagen, dass der für uns verloren ist“. Nur so habe er Klienten den Weg in den Westen öffnen können.

Was Schnur bereut, ist nur das Scheitern auf der Ziellinie. In den Wochen der Wende, als ihn eine Euphoriewelle immer weiter nach oben trägt, als er mit Kohl kumpelt, auf Märkten spricht und am Rad der Weltpolitik dreht, habe er stets gut geschlafen, sagt er. „Ich war so beseelt, ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass mich jemand auffliegen lassen könnte.“

Als es passiert, ist er konsterniert, am Boden zerstört, ohne Freunde, Fans und Gefolgsleute. Wolfgang Schnur bricht zusammen, er versteht die Welt nicht mehr. Immer wollte er nur Gutes. Und er hätte es verdient gehabt, belohnt zu werden, glaubt er.

Stattdessen haben sie ihm die Anwaltszulassung wegen Verletzung der Menschenwürde entzogen. Es folgen Verurteilungen wegen politischer Verdächtigung, Beleidigung eines Richters und Konkursverschleppung. Der nächste Ministerpräsident ist ganz unten, unsichtbar, ein verschwundener Mann einer vergessenen Vergangenheit. Vor vier Jahren ist Wolfgang Schnur schwer an Krebs erkrankt. Eine Operation, sagt er, lohne sich nicht mehr. (mz)

Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter - Wolfgang Schnur. Mitteldeutscher Verlag, 383 S., 19,95 Euro