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DDR-Vergangenheit DDR-Vergangenheit: Stasi machte Minderjährige zu Spitzeln

Von Markus Decker 06.03.2015, 16:58
Angela Marquardt
Angela Marquardt Benjamin Pritzkuleit Lizenz

Berlin - Helmut Müller-Enbergs hat schon eine Menge gelesen und gehört. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der DDR-Staatssicherheit im Allgemeinen und den Inoffiziellen Mitarbeitern im Besonderen. Nun sagt der Professor an der Syddansk Universitet (Süddänische Universität): „Die Lebensgeschichte von Angela Marquardt berührt in mehrfacher Hinsicht. Und sie geht unter die Haut.“

Dass eine 14-Jährige von ihrem Stiefvater missbraucht und später von eben diesem Stiefvater und der eigenen Mutter der Stasi zugeführt wird – das kommt nicht so häufig vor. Mindestens ebenso selten ist, dass die Betroffene derart offen darüber schreibt, wie die 43-Jährige es in ihrem Buch „Vater, Mutter, Stasi“ tut, das jetzt im Beisein des Stasi-Unterlagenbeauftragten Roland Jahn der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Müller-Enbergs hat an dem jetzt erschienenen Buch mitgewirkt.

Kein Einzelfall

Tatsächlich ist Marquardt kein Einzelfall. Einzigartig ist, dass hier „Akte und Gesicht zusammen kommen“, wie sie selbst bemerkt. Denn die Akten von unter 18-Jährigen werden zum Schutz der Betroffenen verborgen. Müller-Enbergs sagt: „Noch so skrupulöses Sprechen mit ehemals minderjährigen IM wühlt etwas auf, das es geboten erscheinen lässt, auch aus wissenschaftlichem Interesse heraus Annäherungen zu unterlassen.“ Die Erinnerung habe „bei manch einem einen dunklen Platz, der verdrängt werden soll“. Und selten sei der Druck „so stark, dass darüber gesprochen werden muss, um sich zu befreien“.

Die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter zum Ende der DDR wird mit 189.000 angegeben. Man schätzt, dass 1300 von ihnen minderjährig waren. Stasi-Chef Erich Mielke ließ frühzeitig verlauten, dass „alle Erscheinungsformen der Feindtätigkeit, Vorkommnisse und die Angriffsrichtungen des Gegners unter jugendlichen Personenkreisen ständig erfasst, analysiert und ausgewertet werden“ müssten. Da Jugendliche meist erst in der Pubertät eine widerständige politische Identität ausbilden, mussten die IM also schon vorher gewonnen, ja regelrecht aufgebaut werden. Der jüngste bekannte Fall war ein Zwölfjähriger aus dem thüringischen Bad Salzungen mit dem Decknamen „Jüngling“.

Stasi nutzte Familiäre Konflikte aus

Gelegentlich wurden die Jugendlichen wie im Fall Marquardt über die Familien gewonnen – wobei Eltern sich mit Aussicht auf Erfolg wehren konnten. Oft waren Schuldirektoren beteiligt. Manchmal nutzte die Stasi familiäre Konflikte aus. In der Regel simulierte sie Interesse für die Lebenswelt der Auserwählten, um auf diesem Wege ihr Vertrauen zu gewinnen. Jugendliche waren schlechter zu erpressen als Erwachsene, die meist mehr zu verlieren hatten – ihren Job beispielsweise. Ohnehin sind junge Menschen ihrer Natur nach weniger berechenbar. Deshalb verzichtete die Stasi unter anderem darauf, sie mit größeren Geldbeträgen zu entlohnen. Die Nachwuchs-IMs hätten sonst vor Altersgenossen damit prahlen und sich so selbst enttarnen können.

Marquardts Co-Autorin Miriam Hollstein hat weitere Fälle benannt. So wurde eine 17-Jährige namens Kerstin, die heute den Nachnamen Harrabi trägt, ins Büro ihres Schuldirektors gebeten. Dort saßen Männer von der Stasi, die fragten: „Warum zitterst Du denn so?“ Die heute 58-Jährige hatte mit einem von ihnen vorher in einer Kneipe über Westmusik geplaudert. Um ihren ersehnten Beruf als Russisch-Lehrerin nicht zu gefährden, gab sie Auskünfte über Mitschüler im Internat. Als die Teenagerin noch mit dem Sohn eines Zahnarztes schlafen sollte, dessen Eltern der geplanten Republikflucht verdächtigt wurden, war Schluss.

„Ein Stück Leben genommen“

Die ehemalige PDS-Politikerin und heutige Sozialdemokratin Marquardt fragt sich rückblickend, in welchem Maße die Instrumentalisierung durch die Staatssicherheit eigentlich ihren Charakter geformt habe. Hundertprozentige Antworten kann es darauf nicht geben. Roland Jahn sagt jedoch: „Da wurde Selbstbestimmung genommen und ein Stück Leben gestohlen.“ Skrupel der Verantwortlichen sind in den verbliebenen Akten gleichwohl nicht vermerkt.