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Extremismus Extremismus: Bitterfeld im Ausnahmezustand

Von Katrin Löwe 02.06.2015, 19:33
Eines der Zeichen mutmaßlich rechter Gewalt: Im April 2015 wurde ein üblicherweise von Alternativen bewohnter Wohnwagen angezündet.
Eines der Zeichen mutmaßlich rechter Gewalt: Im April 2015 wurde ein üblicherweise von Alternativen bewohnter Wohnwagen angezündet. Georg Wenzel Lizenz

Bitterfeld-Wolfen - Die Seite im sozialen Netzwerk Facebook ist wenige Tage alt, aber die Worte sind deutlich: „Genug gespielt! - Jetzt folgen Konsequenzen!“ oder „an die Waffen los!“. Ein Nutzer postet den Slogan „Hass ist unser Gebet, Rache unser Kampfgeschrei“. Die Drohungen richten sich gegen die linke Szene in Bitterfeld-Wolfen - und stammen von der „Brigade Bitterfeld“. Ende Mai hat sie sich als Pendant zur rechtsextremen Hooligan-Gruppierung „Brigade Halle“ gegründet, die seit Monaten vor allem gegen Sinti und Roma in Halle Stimmung macht.

Wie „Konsequenzen“ in dieser Szene aussehen, lässt sich anhand eines Vorfalls vom Wochenende erahnen: Da nahm die Polizei vor dem „Alternativen Kulturwerk“ in Bitterfeld zwei Männer fest, die offensichtlich einen Brandanschlag auf die linke Szene geplant hatten und inzwischen in Untersuchungshaft sitzen. In ihrem Fahrzeug wurden laut Polizei griffbereite Molotow-Cocktails und ein Baseballschläger gefunden. Beide Männer seien bereits polizeibekannt, einer wegen rechtsmotivierter Taten.

Von Normalität scheint die Stadt Bitterfeld weit entfernt. Nach mehreren Gewalttaten war die Kommune zuletzt im Mai mit Anschlägen auf Parteibüros von Linken und Grünen in die Schlagzeilen geraten. Unbekannte hatten die Fenster mit Gullydeckeln eingeworfen, in einigen Fällen - wenn noch jemand im Büro war - Reizgas versprüht.

Die Partei „Die Rechte“ ist eine 2012 gegründete rechtsextreme Partei, deren Gründungsmitglieder überwiegend frühere DVU-Mitglieder waren. In Nordrhein-Westfalen haben Mitglieder verbotener Neonazi-Kameradschaften ihre Arbeit in der Partei fortgesetzt. Vorsitzender des Bundesverbandes ist der bekannte Neonazi Christian Worch, mindestens einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden lebt in Sachsen-Anhalt. Ende 2014 wurde in Sachsen-Anhalt ein Landesverband gegründet.

„Der III. Weg“ wurde Ende 2013 durch ehemalige Mitglieder der NPD Rheinland-Pfalz gegründet. Seitdem verstärken sich laut Verfassungsschutz personelle Verflechtungen mit der neonazistischen Szene - in Bayern etwa seien in der Partei Führungsaktivisten vom 2014 verbotenen „Freien Netz Süd“ aktiv.

Doch warum spitzt sich die Situation gerade in Bitterfeld zu? Auf der Suche nach Antworten verweisen Szenekenner auf einen Rückblick: Im Januar tauchen im nahen Sandersdorf-Brehna zum ersten Mal Flugblätter der noch jungen rechtsextremen Partei „Der III. Weg“ auf. Gewettert wird gegen „antideutsche Verausländerungspolitik“, heraufbeschworen der „endgültige Volkstod“. Beobachter sprechen vom Zuzug bundesweiter Neonazi-Kader in die Region, die sowohl für den „III. Weg“ als auch für die Partei „Die Rechte“ Strukturen aufbauen wollen. Und offenbar auch eine bereits seit Mai 2014 existierende „Mahnwache“ in Bitterfeld für sich und ihre Propaganda entdecken.

Bis dahin war die Ansammlung in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben. Zu ihr sollen auch AfD-Anhänger gehört haben und „Reichsbürger“, die die rechtmäßige Existenz der Bundesrepublik leugnen.

Polizei spricht von „Polarisierung der Meinungen“

Die Polizei spricht von einer „Polarisierung der Meinungen“ ab Februar/März 2015. Alternative Jugendliche berichten von rechtsextremen Parolen auf der Mahnwache, von Neonazi-Musik. „Da passierte etwas, dem man widersprechen musste. Was uns nicht klar war: dass die Öffentlichkeit keine Notiz davon nehmen wollte“, sagt ein Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft Neofaschismus und Recherche“, eines Projekts des seit 1997 in Bitterfeld existierenden Alternativen Kulturwerks (AKW).

Die linke Szene beginnt sich einzumischen, dann mit Zwischenrufen die Mahnwachen zu stören. In den Folgewochen spitzt sich die Situation weiter zu. Es gibt Demonstrationen des rechten wie des linken Spektrums - mit überregionaler Beteiligung. Die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt spricht Mitte Mai von 14 gewalttätigen Übergriffen vor allem auf linke Jugendliche. 2014 waren es fünf im ganzen Kreis. Linke werden in ihren Wohnungen überfallen, geschlagen, mit Schraubendrehern attackiert. Ein Jugendlicher wird am Bahnhof mit einem Baseballschläger verprügelt - laut Polizei kommt ein 21-Jähriger aus dem rechten Spektrum in Haft. Es folgen im April ein Brandanschlag auf einen Wohnwagen des Alternativen Kulturwerks, im Mai Angriffe auf Parteibüros.

Wie die Lokalpolitik reagiert und was der Stadt vorgeworfen wird, lesen Sie auf Seite 2.

Die Lokalpolitik reagiert zunächst mit einem offenen Brief, in dem allgemein Gewalt verurteilt wird. Tatsächlich hat die Polizei auch auf linker Seite Straftaten registriert: zunächst Graffiti, Sachbeschädigungen im Zusammenhang mit Spontandemos. In Teilen widerspricht das AKW den Darstellungen. Offiziell listet das Innenministerium bis 30. April je neun Straftaten auf beiden Seiten, darunter je drei Gewaltdelikte - bei Rechtsextremen Körperverletzungen, links Körperverletzung, Raub und Landfriedensbruch.

Auf Forderungen von Grünen und Linken, das Nazi-Problem in der Stadt zu benennen und sich eindeutig zu positionieren, reagieren Teile der Kommunalpolitik zunächst zurückhaltend bis hilflos. „Wir kennen dieses Problem aus der Vergangenheit eher nicht“, heißt es nach den Anschlägen auf die Parteibüros. An ein Neonazi-Problem glauben einige Stadträte nicht - und wenn, dann an ein von außen hereingetragenes. Die „extrem linke und rechte Szene“ hätten sich „gegenseitig hochgeschaukelt und bewusst aufgepuscht“, schreibt Landrat Uwe Schulze (CDU).

Die Partei „Die Rechte“ ist eine 2012 gegründete rechtsextreme Partei, deren Gründungsmitglieder überwiegend frühere DVU-Mitglieder waren. In Nordrhein-Westfalen haben Mitglieder verbotener Neonazi-Kameradschaften ihre Arbeit in der Partei fortgesetzt. Vorsitzender des Bundesverbandes ist der bekannte Neonazi Christian Worch, mindestens einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden lebt in Sachsen-Anhalt. Ende 2014 wurde in Sachsen-Anhalt ein Landesverband gegründet.

„Der III. Weg“ wurde Ende 2013 durch ehemalige Mitglieder der NPD Rheinland-Pfalz gegründet. Seitdem verstärken sich laut Verfassungsschutz personelle Verflechtungen mit der neonazistischen Szene - in Bayern etwa seien in der Partei Führungsaktivisten vom 2014 verbotenen „Freien Netz Süd“ aktiv.

„Die Wahrnehmung, hier handele es sich um einen Szenekrieg zwischen Rechts und Links teile ich nicht“, sagt indes David Begrich, Rechtsextremismus-Experte vom Verein Miteinander. „Die Straftaten und die Aggressivität stehen in keinem Verhältnis zueinander. Auf der Gewaltebene haben die Neonazis das Heft in der Hand.“

Marco Steckel von der Opferberatung sieht das ebenso - trotz Polizeistatistik. So würden von der Beratungsstelle auch nicht angezeigte Fälle erfasst, zudem unterscheide sich die Einordnung als Gewaltdelikt gegenüber der Polizei. Und es fehlten in der Statistik unter anderen die Angriffe auf Parteibüros im Mai. Auch wenn die Täter unbekannt sind, ordnet die Opferberatung sie als mutmaßlich rechtsextrem ein. „Statistik ist zudem quantitativ, nicht qualitativ“, so Steckel.

Den Vorwurf, Delikte zu Unrecht gleichzusetzen, weist Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos) zurück: „Wir setzen nichts gleich. Wir wollen gar keine Gewalt“, sagt sie. Dann verweist sie auf den Titel „Stadt ohne Rassismus - Stadt mit Courage“, den Bitterfeld-Wolfen 2013 verliehen bekam, auf Projekte in Schulen und Vereinen. „Dazu bekennen wir uns.“ In Bitterfeld gebe es wie in ganz Sachsen-Anhalt Probleme mit Neonazis. „Wir sind aber nicht die dickste Perle auf der Schnur.“

Und wie weiter? Ein für den 1.Mai geplantes Fest „Bitterfeld zeigt Gesicht“ wurde aus Sorge über eine Eskalation abgesagt. Ein neues ist noch nicht geplant. „Wir sind pleite und können nicht jede Woche ein Fest feiern“, sagt Wust - wohl aber bestehende nutzen. So habe sich die Stadt beim Goitzsche-Halbmarathon engagiert, der am vergangenen Wochenende als „Lauf für Frieden, Demokratie und Toleranz“ stattfand. Seit Monaten hatten Asylbewerber dafür beim Verein „Goitzsche Sport“ trainiert.

Die Opferberatung wurde inzwischen zudem gebeten, im Stadtrat über Rechtsextremismus und Handlungsempfehlungen zu reden. Vor der Frage, was zu tun sei, bedürfe es eines Verständnisses dafür, was in der Region passiert, betont auch Rechtsextremismus-Experte Begrich. Gestern wurde darüber hinaus verkündet, dass sich inzwischen eine Arbeitsgruppe aus Stadt, Landkreis und mehreren Partnern aus Politik und Gesellschaft gebildet hat, die in ein breites Bündnis für Toleranz und gegen Gewalt münden soll. Wie genau dessen Aktionen aussehen werden, steht noch nicht fest.

Die Facebook-Seite der „Brigade Bitterfeld“ war unterdessen zwischenzeitlich aus dem Netz gelöscht. Inzwischen ist sie - ohne die anfangs zitierten Beiträge - zurück. (mz)

Parteibüros werden nach Anschlägen von Kameras überwacht.
Parteibüros werden nach Anschlägen von Kameras überwacht.
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